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Peter FitzDavid lächelte an diesem Sommertag. Das milde warme Licht schien von den Wicklow–Bergen hinunterzurollen und von der weit gestreckten, blauen, gekrümmten Bucht hereinzuströmen. Endlich in Dublin.

Als Strongbow und König Diarmait im letzten Herbst in Irland angekommen waren, hatten sie ihn im Süden als Bewacher des Hafens von Waterford zurückgelassen. Peter hatte seine Aufgabe gut gemeistert, doch als Strongbow sich im Winter nach Waterford zurückgezogen hatte, schien er fast vergessen zu haben, wer Peter war.

»Diarmait und Strongbow werden die ganze Insel einnehmen«, meinten manche. Peter hielt es für recht wahrscheinlich, dass der irische König genau darauf hoffte; und mit Strongbows gut ausgerüstetem Heer könnte es womöglich gelingen. Die irischen Oberhäupter hatten, obwohl sie ausgezeichnete Kämpfer waren, der vernichtenden Wirkung eines Kavallerieeinsatzes nichts entgegenzusetzen; auch die Bogenschützen waren hoch überlegen. Selbst der Hochkönig könnte trotz seiner Gefolgsmänner Schwierigkeiten haben, sie aufzuhalten.

Hingegen glaubten andere Soldaten, die Mission stünde kurz vor ihrem Abschluss. Sollte dies der Fall sein, würden die meisten von ihnen ausgezahlt und heimgeschickt. Und ich werde sicherlich, mutmaßte Peter, nur mit einem geringen Sold bedacht, der kaum für mich reicht oder den ich gar meiner Mutter geben könnte. Er fragte sich, wo er danach eine Arbeit fände. Doch im Mai hatte sich eine unerwartete Chance geboten. König Diarmait von Leinster wurde, nachdem er sein Königreich zurückerobert hatte, plötzlich krank und starb.

Was würde jetzt geschehen? Der König von Leinster hatte Strongbow, als er ihm seine Tochter zur Frau gab, versprochen, ihn zu seinem Erben zu machen. Aber war dieses Versprechen etwas wert? Strongbow, eigentlich Richard FitzGilbert mit Namen und seines Zeichens der Earl of Pembroke, war nun einmal kein Ire. Peter hatte schon hinreichend die Sitten dieser Insel kennen gelernt, um zu wissen, dass in Irland die Oberhäupter immer unter den nächsten Verwandten des Verstorbenen vom Volk ausgewählt wurden. Diarmait hatte einen Bruder und einige Söhne zurückgelassen; und nach irischem Gesetz kam es nicht in Frage, dass der ausländische Ehemann ihrer Schwester das Erbe anträte. Und es zeigte sich bereits, dass Diarmaits Söhne sich zumindest Gedanken darüber machten.

»Sie haben keine andere Wahl«, hatte ihm ein Waterforder Kaufmann gesagt. »Strongbow hat dreihundert Ritter, dreihundert Bogenschützen und eintausend Mann. Er hat die Macht. Ohne ihn sind sie nichts. Wenn sie an seiner Seite bleiben, so haben sie zumindest noch eine Chance, ein Stück von dem zu behalten, was sie verloren haben.«

»Aber ich sehe noch ein anderes Problem«, hatte Peter entgegnet. Gemäß dem Feudalgesetz des Plantagenet–Englands werde ein großes Herrschaftsgebiet wie Leinster an den ältesten Sohn weitergegeben; oder sollte es auf eine Erbin übergehen, dürfte sie ohne Einwilligung des Königs nicht heiraten und Könige legten im Allgemeinen Wert darauf, solche Erbinnen zuverlässigen Freunden zur Frau zu geben. Da Diarmait tatsächlich König Heinrich II. von England als seinen Oberherrn anerkannt hatte und Strongbow in jedem Fall ein Vasall des Plantagenet–Königs war, würde sich der englische Magnat selbst in eine gefährliche rechtliche Lage bringen, wenn er das Erbe in Leinster anträte. »Er brauchte tatsächlich König Heinrichs Erlaubnis«, hatte Peter dem Waterforder Händler erklärt. »Und ich frage mich, ob er sie hat.«

Zur selben Zeit zerbrach sich jedoch König Heinrich II. von England über andere Dinge den Kopf. Und Peter hielt es für recht unwahrscheinlich, dass der englische König es wagen würde, sich in Irland blicken zu lassen.

Die schockierende Nachricht aus England war bereits Anfang Januar herübergedrungen. Und schon innerhalb des nächsten Monats hatte sie sich in ganz Europa herumgesprochen: Der König von England hatte Thomas Becket, den Erzbischof von Canterbury, getötet, der sich dagegen aufgelehnt hatte, dass Ordensmitglieder, hatten sie Verbrechen wie Mord oder Diebstahl begangen, sich vor ordentlichen Gerichten zu verantworten hätten.

Ganz Europa war über das Vorgehen Heinrichs II. empört. Auch der Papst prangerte ihn an. Peter vermutete, der englische König sei viel zu sehr beschäftigt, diese Krise zu überstehen, als dass er den Ereignissen in Leinster große Aufmerksamkeit beimessen würde.

Strongbow hatte keine Zeit vergeudet und war geradewegs nach Dublin gereist. Der vertriebene Dubliner König war, wie vermutet, inzwischen von den nördlichen Inseln mit einer Flotte zurückgekehrt, doch kaum hatten die Nordländer, die er um sich geschart hatte, begonnen, das Osttor anzugreifen, waren die Engländer vom Südtor herbeigestürmt, hatten sie von hinten angegriffen und in Stücke geschlagen. Auch der König von Dublin wurde getötet. Dennoch konnte sich niemand vorstellen, dass der Hochkönig von Irland tatenlos Zusehen würde, wie dieser englische Eindringling namens Strongbow ein Viertel der Insel und ihren größten Hafen einnahm.

»Der Hochkönig soll bald eintreffen«, hatte ein Bote aus Dublin Peter FitzDavid berichtet. »Die Verstärkung soll sich auf schnellstem Wege nach Dublin begeben. Und du gehörst dazu.«

Und so kam er nun endlich an einem sonnigen Sommertag hier in Dublin an. Und kaum hatte er Strongbow Bericht erstattet und seine Männer einquartiert, wusste er, was er tun würde.

Er würde seinen alten Freund Gilpatrick und dessen Familie besuchen. Und er war gespannt, ob sein Freund noch immer eine hübsche Schwester hatte.

* * *

Es geschah nicht oft, dass Gilpatricks Mutter an ihrem Mann etwas auszusetzen hatte; doch sie wusste, manchmal musste man ihn unter Druck setzen. Als Gilpatrick der Hochzeit seines Bruders Lorcan fern blieb, war sie ebenso erbost wie ihr Mann. Es war eine öffentliche Beleidigung und eine Demütigung für die ganze Familie. Dass ihr Mann Gilpatrick danach nicht sehen wollte, nahm sie ihm nicht übel. Doch irgendwann musste die Kluft überbrückt werden. Nach einem Jahr hatte sie daher beschlossen, es sei für alle das Beste, wenn der alte Priester seinem Sohn wieder erlaubte, nach Hause zu kommen; und nach Wochen des wohl überlegten Zuredens und der Tränen hatte sie ihren noch immer missmutigen Mann überzeugt, ihm einen Besuch zu Hause zu gestatten. »Und du kannst dich glücklich schätzen«, hatte sie Gilpatrick eindringlich erklärt, »dass er einwilligt.«

Dennoch war der alte Conn, als er drei Tage später auf die Ankunft seines Sohnes und dessen Freunds wartete, in gereizter Stimmung.

Englische Söldner in Diarmaits Diensten im Land zu haben, war die eine Sache, doch Strongbow, der sich mit seinem Heer als Macht im Land behauptete, war etwas völlig anderes. »Womöglich stehen wir mit Strongbow nicht schlechter dar als zuvor mit jenem Schurken Diarmait«, hatte am Tag zuvor ein Freund Conn gegenüber bemerkt. Doch das Oberhaupt der Ui Fergusa war sich da nicht so sicher. »Seit die Ostmänner gekommen sind, hat es so etwas in Irland nicht mehr gegeben«, schimpfte er. »Sollte der Hochkönig ihnen nicht Einhalt gebieten können, wird dies eine englische Besetzung.«

»Nicht einmal die Ostmänner sind jemals wirklich über die Hafenstädte hinausgegangen«, erinnerte ihn sein Freund.

»Die Engländer sind anders«, hatte er dagegengehalten.

Nun würde sein Sohn Gilpatrick, mit dem er erst seit kurzem wieder sprach, diesen jungen Soldaten von Strongbow in sein Haus bringen. Irische Höflichkeit und Gastfreundschaft verlangten, dass er den Fremden freundlich willkommen hieß, doch er hoffte, es würde nur ein kurzer Besuch.

Und als wäre all das nicht genug, hatte sich seine Frau diesen Tag ausgesucht, um ihn wieder mal mit einem Thema zu bedrängen, über das er nicht reden wollte.

»Du hast nichts unternommen«, sagte sie völlig zu Recht. »Obwohl du in den letzten drei Jahren immer wieder gesagt hast, du wolltest etwas unternehmen.«

Dieses Ehepaar bot einen kuriosen Anblick: Der Priester war groß und feingliedrig, seine Frau hingegen klein und stämmig; doch sie waren voll liebevoller Hingabe füreinander. Gilpatricks Mutter machte ihrem Mann keinen Vorwurf, dass er seine Pflicht schon so lange vor sich herschob. Sie verstand sehr gut, dass er sich fürchtete. Wer täte das nicht, wenn das Problem Fionnuala war?

»Wenn wir sie nicht bald verheiraten, weiß ich nicht, was die Leute sagen. Oder was sie tun wird«, fügte sie hinzu.

Es sollte doch das Leichteste von der Welt sein. War sie denn nicht hübsch? War sie denn nicht die Tochter des Oberhaupts der Ui Fergusa? Konnte es sich ihr Vater etwa nicht leisten, sie mit einer anständigen Mitgift auszustatten? Es war ja nicht so, als habe sie einen schlechten Ruf. Noch nicht.

Als Fionnuala vom Palmer heimkehrte, meinte ihr Vater anfangs, sie wirke gefestigter; ihre Mutter hatte sie jedoch skeptischer betrachtet. Sie hatte sich bemüht, mit ihrer Tochter nicht in Streit zu geraten, und hatte ihr kleine Arbeiten aufgetragen; aber nach wenigen Wochen kam es wieder zu Wutanfällen und Trotz. Mehr als ein Mal war Fionnuala aus dem Haus gelaufen und den ganzen Tag nicht zurückgekommen.

Fionnuala war jetzt sechzehn. Schon seit Jahren hatte ihr Vater davon gesprochen, ihr einen Freier zu suchen. Als die Tochter noch jünger war, hatte die Mutter vermutet, er sei einfach zu träge, doch nun hatte sie den Verdacht, er sei nervös. Es war nicht vorherzusehen, wie Fionnuala reagieren würde, wenn sie ihr jemanden vorschlagen würden. »Sie wird schon wissen, wie sie ihn abstoßen kann, wenn sie ihn nicht will«, meinte ihr Vater bedrückt. »Gott weiß, wen sie beleidigen wird.« Zudem wäre die Frage der Mitgift zu klären. Sollte bekannt werden, dass Fionnuala schwierig war, »wären zwölf mal zwanzig Vieh nicht genug«, sagte ihr Vater bitter. Die ganze Sache schien so unausweichlich in kostspielige Geldverlegenheiten zu führen, dass der Priester zugeben musste, dass er sie insgeheim Monat für Monat verschoben hatte.

»Wie auch immer«, sagte seine Frau nun einschmeichelnd. »Ich glaube, ich habe einen Kandidaten.«

»Du glaubst?«

»Ich habe mit meiner Schwester gesprochen. Es ist einer der O’Byrnes.«

»Ein O’Byrne?« Das war tatsächlich eine viel versprechende Neuigkeit. Seine Schwägerin hatte gut daran getan, in diese Familie einzuheiraten. Die O’Byrnes waren wie die O’Tooles eine der vornehmsten Fürstenfamilien von Nord–Leinster.

»Es ist doch nicht zufällig Ruairi O’Byrne?«

»Nein, der nicht.« Sogar die Familie O’Byrne hatte unter ihren vielen Mitgliedern hin und wieder ein schwarzes Schaf. Obwohl er noch so jung war, hatte Ruairi es bereits zu einem zweifelhaften Ruf gebracht. »Ich spreche von Brendan«, sagte sie dann.

Das war etwas völlig anderes. Auch wenn Brendan nur ein nachrangiges Mitglied des fürstlichen Clans war, hatte der Priester doch immer wieder gehört, er sei ein tüchtiger Kerl.

»Haben sie sich je getroffen?«, fragte er nach.

»Er hat sie ein Mal auf dem Markt gesehen. Offenbar hat er meine Schwester über sie ausgefragt.«

»Lass ihn herkommen, so schnell er mag«, sagte ihr Mann. Und er hätte vielleicht noch mehr gesagt, wäre nicht ein Sklave aufgetaucht, um ihm zu melden, dass Gilpatrick komme.

Natürlich war Gilpatrick froh, seinen alten Freund wiederzusehen, als Peter an seine Tür klopfte.

»Du hast gesagt, wann immer ich nach Dublin komme, solle ich dich besuchen«, meinte Peter mit einem Lächeln.

»Habe ich. Aha. Habe ich«, sagte Gilpatrick. »Einmal Freund, immer Freund.«

Es stimmte nicht so ganz. Man konnte nicht darüber hinwegsehen, dass sich manches verändert hatte. Selbst den Kirchenleuten mit den engsten Verbindungen zu England hatte der Mord an Becket den Blick auf den englischen König getrübt.

»Du hast dich überhaupt nicht verändert«, rief er.

Auch das stimmte nicht. Und als sie nun hinauf zum Haus seiner Eltern gingen, warf er einen Blick auf Peter FitzDavid und meinte, obwohl er noch immer dieselben jungenhaften Züge und die arglose Hoffnung im Gesicht seines Freundes sah, etwas Neues an ihm zu entdecken. Einen Hauch Angst. Tatsache war, dass Peter trotz seiner dreijährigen aktiven Dienstzeit nicht einmal mit einer einzigen Kuh entlohnt worden war.

»Du musst zu eigenem Land kommen, Peter«, sagte er wohlwollend. Es war schon seltsam, wurde ihm bewusst, dass er, ein Ire, einem fremden Söldner so etwas nahe legte. Im traditionellen Irland wurde ein Krieger natürlich mit Vieh entlohnt, das er auf den weiten Ländereien seines Clans weiden lassen konnte; doch spätestens seit Brian Boru waren irische Könige wie Diarmait von Leinster dafür bekannt, dass sie ihre Gefolgsleute mit Grundbesitz entlohnten, der auf früherem Stammesland lag. Und sollte es auch einem Soldaten nicht gelingen, materiellen Lohn zu bekommen, überlegte Gilpatrick, so war das traditionelle irische System freundlicher. Denn ein tapferer Krieger kehrte mit der Ehre zu seinem Clan zurück. Für einen feudalen Ritter, auch wenn er womöglich eine liebevolle Familie hatte, gab es kein Clan–System, das ihn trug. Auch wenn er ein Ehrenmann war, besaß er erst Vermögen, wenn er zu Grundbesitz kam. Der irische Priester empfand ein wenig Bedauern für seinen ausländischen Freund.

Sein Vater hieß Peter mit vornehmer Würde willkommen. Und Peter seinerseits äußerte, wie gut und bequem das Steinhaus des Priesters eingerichtet sei, auch wenn er sich darüber wunderte, dass der Kirchenmann einen goldgefassten Trinkschädel in der Ecke aufbewahrte.

Niemand erwähnte die Ermordung von Thomas Becket. Gilpatricks Eltern fragten den Gast nach seiner Familie und seinen Erlebnissen mit König Diarmait im Süden. Und als schließlich Conn Gilpatrick gegenüber nicht umhin konnte zu bemerken, er als Priester sei ein wenig nervös wegen des englischen Königs »angesichts dessen, was er Erzbischöfen antut«, ging Peter lachend darüber hinweg. »Auch wir fürchten ihn.«

Und hätte noch ein Beweis für die Freundlichkeit seines Vaters gefehlt, so wurde er erbracht, als er seinem Sohn gegenüber bemerkte: »Ich käme wirklich nicht darauf, dass dein Freund Engländer ist.«

»Ja, meine Familie ist flämisch«, bestätigte Peter.

»Aber Ihr seid doch in Wales geboren? Und Euer Vater ebenfalls?«

»Ja, das stimmt.« Peter nickte.

»Ihr sprecht Walisisch?«

»Mein ganzes Leben lang.«

»Dann bin ich der Meinung«, sagte das irische Stammesoberhaupt, »Ihr seid Waliser.« Er wandte sich zu seiner Frau.

Sie lächelte.

»Du bist Waliser.« Gilpatrick grinste verschmitzt.

»Ich bin Waliser«, stimmte Peter wohlweislich zu.

Und gerade als sie seine Identität geklärt hatten, erschien eine neue Person an der Tür.

»Ach, Waliser«, sagte Conn mit plötzlicher Zurückhaltung in der Stimme, »das ist meine Tochter Fionnuala.«

Als sie durch die Tür trat, schien es Peter FitzDavid, Fionnuala sei das hübscheste Mädchen, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Ihr dunkles Haar, ihre weiße glatte Haut und der volle Mund betörten ihn. Und ihre Augen strahlten in einem erstaunlich reinen Grün.

Sie sprach zu ihren Eltern und ihrem Bruder mit einem Respekt, der bezaubernd war. Und richtete er das Wort an sie, antwortete sie ihm ruhig und unkompliziert. Nur ein Mal schlich sich eine leichte Lebendigkeit in ihre Stimme, und zwar als sie vom Palmer und seinen guten Werken im Hospiz erzählte, wo sie bis vor kurzem gearbeitet hatte. Er war so fasziniert von dieser tugendhaften jungen Frau, dass er die überraschten Blicke, die sich ihre Familienmitglieder zuwarfen, nicht bemerkte.

Nach einer Weile gaben Gilpatricks Eltern zu verstehen, dass sie mit ihrem Sohn allein sein wollten; und sie schlugen vor, Fionnuala solle ihrem Gast die kleine Kirche zeigen. Er bewunderte sie gebührend. Dann nahm ihn Fionnuala mit zur Quelle des heiligen Patrick, und während sie auf den dunklen Teich und den Thingmount in der Ferne deutete, erzählte sie ihm die Geschichte ihres Stammvaters und des heiligen Patrick und erklärte ihm, dass der alte Fergus dort begraben sei. Als Peter so andächtig lauschte, verstand er mit einem Mal, was Gilpatrick mit dem alten Status seiner Familie hatte sagen wollen. Während er das Mädchen anschaute, ihre Schönheit bewunderte, ihren sanften Ernst und ihre Frömmigkeit, fragte er sich, ob sie vielleicht ein Leben im Kloster erwog – und hoffte, sie möge es nicht tun. Dass sie womöglich nicht heiraten würde, kam ihm wie eine Verschwendung vor. Als es Zeit wurde umzukehren, bedauerte er das sehr.

Zum Abschied sprachen Gilpatricks Eltern die herzliche Einladung aus, sie beide, Peter und Gilpatrick, sollten bald wiederkommen, damit man sie nach irischer Art bewirten und unterhalten könne. Ihre Mutter drückte ihm als Geschenk Zuckerwerk in die Hand. Und als Gilpatricks Vater sie zum Tor begleitete, schaute er hinaus auf die Flussmündung und sagte: »Gebt Acht, Waliser, morgen wird es neblig sein.« Da der Himmel vollkommen klar war, hielt Peter diese Voraussage für unwahrscheinlich, doch er war zu höflich, zu widersprechen.

Schon nach kurzer Zeit musste Peter seinen Freund unweigerlich auf Fionnuala ansprechen.

»Sie ist ganz und gar bemerkenswert. Eine fromme Seele.«

»Ach ja?«

»Und sehr schön. Soll sie bald verheiratet werden?«, fragte er ein wenig versonnen.

»Vielleicht. Meine Eltern haben mir erzählt, sie haben jemanden im Sinn.« Er klang recht vage.

»Ein glücklicher Mann. Sicherlich ein Prinz.«

»Ja, so ähnlich.«

Peter wünschte sich insgeheim, er wäre selbst in der Lage, um ihre Hand anhalten zu können.

* * *

Als Peter am nächsten Morgen die Augen öffnete, fiel sein Blick zur offenen Tür, und er runzelte die Stirn. War er zu früh erwacht? Es schien noch dunkel zu sein.

Sechs Leute befanden sich in seinem Quartier. Er und ein anderer Ritter bewohnten das Haus. Drei Waffenmänner und ein Sklave schliefen draußen im Hof. Er hatte gehört, dass dieses Haus einem Silberschmied namens MacGowan gehörte, der die Stadt sofort beim ersten Angriff verlassen hatte. Niemand schien sich zu regen. Im Hof war es seltsam blassgrau. Er stand auf und trat hinaus.

Nebel. Kühler, feuchter, weißer Nebel. Er konnte nicht einmal das wenige Meter entfernte Tor sehen. Die Männer waren wach und saßen unter ihre Decken gekauert in dem kleinen Schuppen, wo vermutlich der Silberschmied gearbeitet hatte. Sie hatten die Kohlenpfanne entzündet. Der Sklave bereitete ein Essen zu. Peter fand zum Tor. Der Nebel umfing sein Gesicht und legte sich feucht auf die Haut. Er nahm an, die Sonne würde ihn später auflösen; bis dahin gab es nichts zu tun. Gilpatricks Vater hatte Recht gehabt. Er hätte nicht an seinen Worten zweifeln sollen. Er kehrte auf den Hof zurück. Der Sklave hatte ein paar Haferkuchen neben den Ofen gelegt, und Peter nahm sich davon. Während er kaute, dachte er an das Mädchen. Obwohl er sich nicht an einen nächtlichen Traum erinnerte, kam es ihm so vor, als habe er im Schlaf an sie gedacht. Er zuckte mit den Achseln. Was hatte es für einen Sinn, über ein Mädchen nachzudenken, das unerreichbar war? Besser, er schlug sie sich aus dem Kopf.

Es hatte nicht viele Frauen in Peters Leben gegeben. Mit einem Mädchen hatte er glückliche Nächte in einer Wexforder Scheune verbracht. In Waterford hatte er einige Wochen heiße Liebesspiele mit der Frau eines Kaufmanns erlebt, während sich ihr Mann auf Reisen befand. Doch in Dublin standen die Aussichten nicht gut. Die Stadt war voller Soldaten, und die Hälfte der Bewohner war geflohen. Der Ritter, mit dem er zusammen im Haus wohnte, hatte ihm von seinen Eroberungen auf der anderen Seite des Flusses in einer Vorstadt am nördlichen Ufer erzählt, aber Peter glaubte davon kein Wort.

Er saß den Vormittag an der Kohlenpfanne und spielte mit den Männern Würfel. Der Nebel löste sich nur ein wenig auf, aber gegen Mittag beschloss Peter, einen Spaziergang zu machen.

Er ging in Richtung des Marktes am Westtor, wo auch das Hospiz lag, in dem Fionnuala arbeitete. Doch als er dort eintraf, sah er bewaffnete Männer auf Wachposten. Er ging lässig an ihnen vorbei und sagte: »Ich will mal sehen, ob der Nebel sich jenseits des Flusses hebt.« Und er ging den Pfad zum Fluss hinunter.

Auf der Brücke herrschte Stille. Er war allein. Er hörte seine eigenen Schritte dumpf auf dem Holz über dem Wasser. Zu seiner Rechten tauchten die Schiffe am Holzquai in den Nebelschleiern wie Insekten auf, gefangen in einem taufeuchten Spinnennetz. Während er den Fluss überquerte, merkte er, dass der Nebel sich endlich hob. Er konnte die Sumpfflächen auf der Nordseite des Liffey erkennen und dahinter die verstreuten Strohdächer des Orts. Links vom Brückenende erblickte er grüne Dämme im Sonnenlicht. Gelbe Blumen leuchteten. Und dann sah er…

Reiter. Überall am Damm entlang tauchten sie aus dem Nebel auf. In großer Zahl. Dann Fußsoldaten mit Speeren und Äxten. Hunderte. Gott weiß wie viele. In wenigen Augenblicken würden sie auf der Brücke sein.

Dies konnte nur eines bedeuten: Der Hochkönig war gekommen, um Dublin mit einem Überraschungsangriff einzunehmen.

Peter FitzDavid drehte um und begann zu rennen. Er rannte schneller, als er je in seinem Leben gerannt war, zurück über die nebelumhüllte Brücke. Er erreichte das Ende der Brücke, eilte den Pfad hinauf zum Tor, wo die beiden Wachposten ihn überrascht anstarrten. Erst als er durch das Tor hindurchgelaufen war, rief er den Wächtern zu: »Schließt das Tor! Rasch!« Er berichtete ihnen, was er gesehen hatte. Dann rief er einige Waffenmänner zusammen und teilte ihnen verschiedene Aufgaben zu. Einen sandte er sofort zu Strongbow. Zwei weitere sollten die Soldaten am Flussufer und am Osttor alarmieren. Mit einem anderen zusammen machte Peter sich selbst auf den Weg zum Südtor. Sollten die Männer des Hochkönigs nicht nur über die Brücke, sondern auch durch die Furt kommen, wäre das große Westtor ihr Ziel. Als er es erreichte, waren noch keine Truppen in Sicht. Er ließ das Tor schließen und verbarrikadieren, rüttelte die Garnison auf und rannte durch die Straßen zur Christ Church und zum Königshof.

Als Peter die alte Königshalle erreichte, war der Earl of Pembroke, genannt Strongbow, gerade dabei, auf sein Pferd zu steigen, umgeben von einem Dutzend Rittern.

»Wer hat diesen Alarm gegeben?«, fragte er ärgerlich in die Runde.

»Ich war es«, rief Peter, während er auf ihn zuging.

Zwei kalte blaue Augen nahmen ihn ins Visier.

»Und wer zum Teufel seid Ihr?«

»Peter FitzDavid«, sagte er unerschrocken. Rasch und knapp erzählte er Strongbow, was er gesehen hatte. »Ich habe die Brücke gesperrt, das Westtor geschlossen und Männer zu allen anderen Toren geschickt.«

»Gut.« Die Augen des großen Mannes wurden schmal. »Ihr wart im Gefolge von Diarmait?« Er nickte Peter zu als Zeichen, dass er sich seiner erinnern würde. Dann wandte er sich an seine Ritter. »Ihr wisst, was zu tun ist. Los!«

Am Nachmittag war der Himmel klar und strahlend. Die Dubliner schauten über die Stadtmauern und sahen die Streitkräfte des Hochkönigs. Nicht nur die Clans, die seiner direkten Kontrolle unterstanden, sondern auch die Männer der großen Stammesführer, die seine Macht anerkannten, waren dabei. Die altehrwürdige Ulaid–Familie aus dem Osten Ulsters hatte ihr Lager draußen in Clontarf aufgeschlagen. Die O’Byrnes, Abkömmlinge von Brian Boru, hatten ihre Männer an der westlichen Grenze der Stadt aufgestellt. König Diarmaits Bruder, der sich entschieden hatte, Strongbow nicht zu unterstützen, lagerte mit seinen Streitkräften am südlichen Küstenzugang. Jede Zufahrt zur Stadt zu Lande und zu Wasser war blockiert. Die Armee des Hochkönigs lagerte in einem großen Ring um die Stadtmauern mit Vorposten, die an jedem Tor auf Anzeichen eines Ausbruchsversuchs der Engländer wachten.

Am späten Nachmittag sah Peter von einem Aussichtspunkt über dem Holzquai Erzbischof O’Toole mit einer Reihe von Priestern über die Brücke reiten, um die Verhandlungen aufzunehmen. Gilpatrick war auch unter ihnen.

Am nächsten Morgen war die Stadt wieder in dichten Nebel gehüllt. Der Earl of Pembroke, genannt Strongbow, hatte Männer auf den Stadtmauern postiert. Peter wurde mit einem Spähtrupp ausgesandt, um nach Anzeichen für einen Überraschungsangriff der Belagerer Ausschau zu halten. Als er Strongbow fragte, ob er selbst einen Überraschungsausbruch plane, schüttelte dieser den Kopf. »Zwecklos«, sagte er. »Ich kann keine Armee befehligen, wenn ich sie nicht sehen kann.«

Peter kehrte von seiner Patrouille zurück, ohne ein Anzeichen für Feindbewegung entdeckt zu haben. Als er danach durch die Stadt ging, war ihm unheimlich zu Mute. Obwohl die Wachposten auf der Stadtmauer ruhig waren, erwartete er fast jedes Mal, wenn sich ihm eine Gestalt aus dem Nebel näherte, einem Feind zu begegnen. Hätte der Nebel sich erst gelichtet, so hießen die Nachrichten, würde der Erzbischof erneut hinausreiten und verhandeln. Peter ging zurück zu seiner Unterkunft und fand sie leer vor. Er setzte sich an die Kohlenpfanne und wartete.

Die Zeit verstrich. In der Stille und in dem Nebel wirkte alles ein wenig unwirklich, als wäre der kleine Hof durch einen merkwürdigen Zauber in eine abgetrennte Welt befördert worden. Als die Gestalt draußen vor dem Tor erschien, glaubte Peter FitzDavid, es sei der Ritter. Als sie dort aber wie ein Geist herumschwebte, statt einzutreten, kam ihm der Gedanke, es sei vielleicht ein Dieb, und während er zu der Bank schaute, wo sein Schwert lag, machte er sich zum Sprung bereit. Da ihm jedoch klar wurde, dass er dort, wo er saß, vom Tor aus kaum zu sehen war, blieb er reglos sitzen. Die Gestalt schwebte noch immer vor dem Tor und schaute offenbar in den Hof. Schließlich huschte sie hinein. Sie trug eine Kapuze über dem Kopf. Sie näherte sich der Kohlenpfanne. Erst als sie auf Armeslänge war und er sie hätte berühren können, erkannte er sie.

Das Mädchen. Fionnuala. Sie zuckte leicht zusammen, als sie ihn sah, doch mehr auch nicht. Er bewunderte ihre Selbstbeherrschung. Sie lächelte.

»Ich dachte, ich sehe mal nach, ob Ihr hier seid.« Anscheinend amüsierte sie sein Erstaunen. »Gilpatrick hat mir gesagt, wo Ihr untergebracht seid. Bis zu diesem Jahr war es das Haus meiner Freundin.«

»Aber wie seid Ihr in die Stadt gekommen?« Er dachte an die Wächter an den Stadttoren.

»Ich bin durch die Pforte gegangen.« In den großen Stadttoren gab es für gewöhnlich jeweils eine kleine Pforte, durch die Einzelpersonen eingelassen wurden. »Sie wissen, dass ich die Tochter des Priesters bin.« Sie schaute sich um. »Seid Ihr allein?« Er nickte. »Darf ich mich ans Feuer setzen?« Er holte einen Stuhl, und sie setzte sich. Sie streifte ihre Kapuze ab, und ihr Haar fiel in welligen Kaskaden herunter.

»Gilpatrick sagt, Ihr habt den Alarm gegeben.« Sie blickte in die glühende Kohle. »Jetzt steht also der Hochkönig vor den Toren Dublins, und Ihr hockt drinnen, und er wartet ab, bis Ihr Hunger leidet.«

Er schaute sie an und fragte sich, was sie wollte, warum sie gekommen war und wie es nur möglich war, dass sie so schön war. Ihre Einschätzung der Lage war wahrscheinlich richtig. Dem Hochkönig standen die gesamten Erzeugnisse aus Leinster zur Verfügung, womit er sein Heer monatelang ernähren könnte. Doch auch Dublin hatte ausreichend Vorräte angelegt. Es könnte eine lange Belagerung werden.

»Vielleicht werden Euer Bruder und der Erzbischof mit dem Hochkönig einen Frieden aushandeln«, sagte er.

»Gilpatrick meint, der Erzbischof wolle ein Blutbad vermeiden«, stimmte sie zu. »Doch der O’Connor–König traut Strongbow nicht.«

»Weil er Engländer ist?«

»Nein, darum nicht.« Sie lachte. »Weil er Diarmaits Schwiegersohn ist.«

Warum war sie hier? War sie so etwas wie eine Spionin, vielleicht von ihrem Vater geschickt, damit sie etwas über Strongbows Verteidigung herausfände? Gilpatrick wäre dazu besser geeignet, aber vielleicht lehnte er als Vermittler diese Rolle ab. Peter sagte sich, so schön und fromm sie auch war, es wäre angebracht, Fionnuala aufmerksam im Auge zu behalten. Während sie über dieses und jenes sprachen, streckte sie ihre schmalen blassen Arme und Hände dem Feuer entgegen, und er antwortete, wenn sie ihn etwas fragte, und beobachtete sie.

Nach einer Weile stand sie auf.

»Ich muss nun nach Hause gehen.«

»Soll ich Euch bis zum Stadttor begleiten?«

»Nein. Das ist nicht nötig.« Sie warf ihm kurz einen Blick zu. »Würde es Euch gefallen, wenn ich Euch wieder einmal besuche?«

»Ich…« Er starrte sie an. »Ja, natürlich«, stammelte er.

»Gut.« Sie schaute zum Tor an der Straße. Es war niemand da. »Sagt mir, Peter FitzDavid, wollt Ihr mich küssen, bevor ich gehe?«

Er blickte sie an. Die sittsame Tochter des Priesters, die irische Prinzessin, bat ihn um einen Kuss. Er stutzte. Höflich küsste er sie auf die Wange.

»Das war nicht das, was ich gemeint habe«, sagte sie.

Was hatte all das zu bedeuten? »Sollt Ihr denn nicht demnächst verheiratet werden?« Dann sagte er sich, er solle nicht so dumm sein. Wenn sie schon um einen richtigen Kuss bat, welcher Idiot würde ihr das verweigern? Er trat näher. Ihre Lippen berührten sich.

* * *

Una war überrascht, als sie Fionnuala am nächsten Tag am Eingang des Hospizes traf, und sie staunte noch mehr, als Fionnuala ihr sagte, warum sie gekommen sei.

»Willst du hier wieder arbeiten?«

»Ich habe zu Hause nichts zu tun, Una. Ich mag nicht nur nutzlos herumsitzen. Meine Eltern wollen, dass ich zu Hause wohne, aber ich könnte doch meine Tage und einige Nächte hier verbringen.« Sie lächelte reumütig. »Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.« Sie schwieg einen Moment. »Du warst zu Recht wütend auf mich, Una. Doch ich glaube, ich bin jetzt ein bisschen erwachsener geworden.«

War sie das wirklich? Una schaute sie prüfend an. Vielleicht. Dann dachte sie sich, sie solle nicht dumm sein. Brauchten sie denn nicht immer Hilfe im Hospiz? Sie lächelte.

»Der Flur muss geputzt werden«, sagte sie.

Der einzige Mensch, der Zweifel an einem Wandel der Priestertochter hegte, war Ailred der Palmer. Er machte sich auch um ihre Sicherheit Sorgen.

»Ich kann unten durch die kleine Pforte in die Stadt gehen«, hielt Fionnuala ihm entgegen. Denn es gab eine kleine Pforte in der Stadtmauer fast unmittelbar unterhalb der Kirche ihres Vaters. »Dann kann ich durch das Westtor hinausgehen und zum Hospiz herüberlaufen. Niemand wird mir etwas zu Leide tun, wenn ich von der Kirche komme oder zum Hospiz gehe.« Tatsächlich hatten weder die englischen Streitkräfte noch die des Hochkönigs je eines der Ordenshäuser um die Stadt herum belästigt. Die Tochter des Priesters durfte sogar inmitten einer militärischen Belagerung ungestört umhergehen.

»Ich werde mit deinem Vater sprechen«, versprach Ailred.

Und so wurde es am selben Abend beschlossen. Fionnuala würde einige Tage in der Woche ins Hospiz kommen. Und manchmal würde sie dort auch übernachten.

»Wer weiß«, bemerkte ihr Vater zu Ailred, »vielleicht wird sie erwachsen.«

* * *

Das Angebot des Hochkönigs kam am dritten Tag, an dem der Erzbischof und Gilpatrick vor die Tore der Stadt ritten.

»Lasst Strongbow Dublin, Wexford und Waterford behalten«, schlug er vor, »und wir müssen uns nicht streiten.«

In verschiedenerlei Hinsicht war es ein großzügiges Angebot. Der Hochkönig war bereit, den bedeutendsten Hafen Irlands dem englischen Lord zu überlassen. Aber Gilpatrick schien es auch ein sehr traditionelles Angebot zu sein. Der Erzbischof fasste es auf ihrem Rückweg kurz zusammen: »Ich vermute, in den Häfen würden gewissermaßen nur die Ostmänner gegen die Engländer ausgetauscht.«

Für die alten Clans und den O’Connor–Hochkönig war es kaum von Belang, wer die Macht über die Häfen hatte, solange die Fremden nicht in das grüne, fruchtbare irische Hinterland eindrangen.

Doch der O’Connor–König war kein Dummkopf. Sein Angebot hatte auch etwas Gerissenes. Wenn er zum einen bereit war, Dublin aufzugeben, so hatte er auch zum anderen sichersteilen wollen, dass Strongbow die Stärke seiner Armee verringerte. Daher musste er ihnen das eine verweigern, was es ihnen ermöglichen würde, länger zu bleiben: Land. Das feudale Verschenken von Land für den Militärdienst. Aus diesem Grunde waren sie alle hergekommen, vom armen jungen Peter FitzDavid bis hin zu Strongbows Familie. Das Angebot des Hochkönigs ließ dieses nicht zu.

»Hoffen wir, dass Strongbow einschlägt«, sagte der fromme Erzbischof. Doch Gilpatrick hatte seine Zweifel.

Am nächsten Tag, bevor noch eine Antwort eingetroffen war, traf er zufällig Peter FitzDavid auf den Fish Shambles. Sie begrüßten sich freundlich, aber mit einer Spur Verlegenheit. Bei der augenblicklichen Belagerung war ein Besuch im Haus seiner Eltern vor den Stadtmauern undenkbar. Da sein Vater natürlich auf der Seite des Hochkönigs stand, wäre es ihm zudem vielleicht nicht angenehm gewesen, gerade jetzt Peter wieder zu sehen. Dennoch plauderten sie freundschaftlich miteinander, bis Peter ungezwungen fragte: »Wie steht es mit den Verlobungsplänen deiner Schwester?«

Gilpatrick runzelte die Stirn. Warum klang in dieser Frage ein falscher Ton an? Machte sich womöglich sein junger Freund Hoffnungen? Letztendlich hatte er selbst einmal vor einigen Jahren diesen Gedanken gehabt. Doch Peters Aussichten schienen im Augenblick nicht sonderlich gut.

»Da musst du meine Eltern fragen«, entgegnete er kurz und ging weiter.

* * *

*     

Fionnuala hatte sich verändert, das musste Una anerkennen. Die Tochter des Priesters konnte zwar nicht jeden Tag kommen, doch wenn sie erschien, arbeitete sie hart und ohne zu klagen. Von den Hospizinsassen war nur Gutes über sie zu hören. Ailred teilte ihrem Vater freudig mit, wie sehr sie sich gebessert habe. Manchmal blieb sie über Nacht im Hospiz, und manchmal musste sie bereits am Nachmittag gehen. Aber sie ließ es Una immer früh genug wissen.

Die englischen Soldaten bereiteten ihr nie Schwierigkeiten. Sie wussten, wer sie war und wohin sie ging. Einmal spazierten sie und Una sogar über die Brücke, doch niemand bereitete ihnen Unannehmlichkeiten, und nachdem sie einige Worte mit den englischen Soldaten auf der anderen Seite gewechselt hatten, stand es ihnen frei, wieder umzukehren.

In der dritten Woche der Belagerung begann der Kordon rund um die Stadt Wirkung zu zeigen. Weder zu Lande noch zu Wasser erreichte Dublin noch eine Lieferung, und die Vorräte gingen langsam zur Neige. Auch Nachrichten drangen nicht in die Stadt.

Es war einige Monate her, dass Una von ihrem Vater in Rouen gehört hatte. Damals war ein Seemann ins Hospiz gekommen und hatte eine Nachricht von MacGowan überbracht, die besagte, er und die ganze Familie seien wohlauf, er habe Arbeit als Handwerksgeselle unter einem anderen Meister gefunden, doch das Leben sei sehr schwierig, und sollte sie beim Palmer in Sicherheit sein, dann möge sie dort bleiben. Dem Seemann war auch aufgetragen worden, sie zu fragen, ob sie den Hund wieder gefunden habe, den sie bei der Abreise der Familie verloren habe.

Der Hund. Ihr war klar, dass ihr Vater die Kassette meinte. Dies war der Moment, den sie gefürchtet hatte. Sie wagte gar nicht an die Verzweiflung und die Angst zu denken, die er empfinden würde, wenn er die Wahrheit erfuhr. Doch Ailred hatte sie zur Ehrlichkeit ermahnt.

»Du musst es ihm erzählen, Una. Stell dir vor, er kommt heim und glaubt, er habe dieses Vermögen im Rücken, und muss dann feststellen, dass er nichts hat. Das wäre ein weit größerer Schock.« So hatte sie ihm eine Nachricht zurückgeschickt: »Der Hund ist verloren.« Und seither hatte sie nichts von ihrem Vater gehört.

* * *

Obwohl er sie voller Leidenschaft geküsst hatte, rechnete Peter nicht damit, Fionnuala wieder zu sehen. Doch zwei Tage nach ihrem Besuch trat einer der Soldaten vom Hof ins Haus und sagte ihm, eine junge Dame sei am Tor, die eine Nachricht für ihn von einem Priester habe. Als er sie dort stehen sah, nahm er an, sie habe tatsächlich eine Nachricht von Gilpatrick. Seine Begrüßung war ebenso förmlich wie freundlich; und als sie ihn bat, er möge sie zur Christ Church begleiten, stimmte er höflich zu. Als sie an die Fish Shambles kamen, war er höchst erstaunt, als sie sich lächelnd zu ihm drehte und sagte: »Ich habe gar keine Nachricht von Gilpatrick.«

»Ihr habt keine Nachricht?«

»Ich dachte«, fuhr sie ruhig fort, »ich könnte wieder zu Eurem Quartier kommen, wenn nicht so viele Menschen dort sind.«

»Oh.«

Sie blieb an einem Stand stehen, prüfte, ob das Obst frisch war, und ging weiter.

»Würde Euch das gefallen?«

Unmöglich, ihre Worte misszuverstehen.

»Es würde mir sogar sehr gefallen«, hörte er sich sagen.

»Ich könnte morgen vielleicht am späten Nachmittag kommen.«

Die Waffenmänner, das wusste er, würden auf Wachposten sein. Der Ritter, mit dem er gemeinsam das Haus bewohnte, wäre womöglich da, aber vielleicht könnte er mit ihm eine Absprache treffen.

»Morgen würde es passen«, antwortete er.

»Gut. Ich muss jetzt nach Hause«, sagte sie.

Als er am nächsten Tag alleine im Haus war, verbrachte er einige bange Momente. Er glaubte nicht, dass das Mädchen eine Spionin war. Zudem war es unwahrscheinlich, dass ihr Vater und ihr Bruder ihr erlauben würden, aus welchem Grund auch immer ihre Jungfräulichkeit zu verlieren. Die andere Möglichkeit war, dass sie hinter ihrer keuschen Maske einen völlig anderen Charakter verbarg.

Als Fionnuala ein bisschen verspätet erschien, wirkte sie etwas nervös und blass. Sie fragte ihn, ob sie allein seien, und als er dies bejahte, war sie offenkundig verwirrt, als wüsste sie nicht, was sie als Nächstes tun müsse. Er hatte warmen Met und Haferkuchen bereitgestellt und fragte sie, ob sie kosten wolle. Sie nickte dankbar und setzte sich mit ihm auf die Bank am Brotofen, um zu essen. Sie trank den Met. Er schenkte ihr nach. Erst als sie ausgetrunken hatte und schon etwas erhitzt aussah, wandte sie sich ihm zu und fragte: »Du hast doch schon mit Frauen geschlafen, oder?«

Und dann verstand er und lächelte sanft.

»Ja«, entgegnete er. »Habe ich. Mach dir keine Gedanken.«

So führte er sie ins Haus, wo es mit Ausnahme eines Lichtflecks, den die durch die Tür fallende Nachmittagssonne zauberte, dämmrig war. Er wollte ihr aus den Kleidern helfen, doch sie schob ihn weg, und dann zog sie sich ganz ruhig vor seinen Augen aus und stand nackt vor ihm.

Ihm stockte der Atem. Ihr Körper war weiß und schlank, die Brüste voller, als er erwartet hatte – sie war die schönste Frau, dachte er, die er je gesehen hatte.

Zwei Tage später sahen sie sich wieder. Dieses Mal ließ es sich nicht vermeiden, den Ritter, der mit ihm die Unterkunft teilte, ins Vertrauen zu ziehen. Belustigt und mit einem gratulierenden Klaps auf den Rücken versicherte der Gefährte Peter, dass er bis Einbruch der Dunkelheit verschwinden würde, und auf sein Wort war Verlass. Bevor sie dieses Mal von ihm ging, hatte Fionnuala mit ihm verabredet, dass sie am nächsten Abend wiederkäme. Wie es ihr nur gelinge, ihn in der Stadt zu besuchen, ohne Verdacht zu wecken, hatte er sie gefragt. Es sei ganz einfach, hatte sie ihm erklärt. Sie habe wieder angefangen, im Hospiz zu arbeiten, und ihr Weg dorthin führe immer durch die Stadt. »Wenn ich also zu dir kommen möchte, sage ich im Hospiz, dass ich nach Hause muss; und wenn ich zu Hause ankomme, sage ich, dass ich gerade vom Hospiz komme. Das merkt keiner.«

Bald liebten sie sich leidenschaftlich jeden Tag. Und dann schlug Fionnuala vor: »Ich könnte morgen die Nacht mit dir verbringen.«

»Wo können wir uns treffen?«, fragte er.

»Unten am Holzquai steht ein Lagerhaus.«

Es erwies sich als ein wunderbarer Ort. Oben auf dem Dachboden türmten sich Wollballen, und an einem Ende dieses Raums befand sich eine große Flügeltür, die sich zum Wasser hin öffnete und einen Ausblick nach Osten über den Fluss bis zum Meer bot. Die Sommernacht war kurz und warm; die Wollballen waren ein herrliches Bett; und als der Morgen graute, stießen sie die Flügeltüren auf und sahen die Sonne über der gleißenden Mündung des Liffey aufgehen, während sie sich noch einmal liebten.

Später, nachdem sie den mitgebrachten Proviant gegessen hatten, huschte sie zum Westtor, wo man vermuten würde, sie wäre auf direktem Wege von zu Hause durch die Stadt gekommen. Peter wartete noch einen Augenblick, und als sich die ersten Leute auf dem Quai rührten, machte er sich auf den Weg zurück zu seinem Quartier.

Er hatte gerade die Fish Shambles erreicht, als er Gilpatrick sah. Einen Augenblick überlegte er, ob er ihm ausweichen könne. Doch Gilpatrick hatte ihn bereits gesehen. Lächelnd trat er auf ihn zu.

»Guten Morgen, Peter. Du bist früh auf.« Gilpatrick betrachtete ihn amüsiert. Peter begriff, dass er nach dieser Nacht wahrscheinlich etwas mitgenommen aussah. Er strich sein Haar glatt. »Du siehst aus, als hättest du eine harte Nacht gehabt«, sagte Gilpatrick zwinkernd. »Du solltest besser in die Kirche gehen und eine gute Beichte ablegen.« Doch hinter dem freundlichen Necken spürte Peter auch einen milden priesterlichen Tadel.

»Ich konnte nicht schlafen«, sagte er. »Hast du jemals auf dem Quai gestanden und beobachtet, wie die Sonne über der Flussmündung aufgeht? Es ist wunderschön.«

Er sah, dass Gilpatrick ihm nicht glaubte.

»Ich habe gerade meine Schwester getroffen«, sagte Gilpatrick.

Peter spürte, wie er blass wurde. Er riss sich zusammen.

»Deine Schwester? Wie geht es ihr?«

»Es freut mich, sagen zu können, dass sie hart im Hospiz arbeitet.«

Sah der Priester ihn nun anders an? Hegte er einen Verdacht? Peter gähnte und schüttelte den Kopf, um seine Verwirrung zu verbergen. Was sagte Gilpatrick gerade?

»Kennst du eigentlich Una MacGowan? Das Haus, in dem du wohnst, Peter, gehört ihr.«

»Ach, nein. Nein, ich kenne sie nicht.«

Doch als er wenig später in seinem Quartier saß, durchlebte Peter einige unangenehme Momente. Seine Liebesaffäre mit Fionnuala hatte sich so unerwartet und so aufregend ergeben, dass er bis jetzt noch nicht viel über die Risiken nachgedacht hatte. Das Treffen mit Gilpatrick hatte ihn plötzlich aufgerüttelt und sein Bewusstsein geschärft. Der junge Priester hatte erraten, dass er die Nacht mit einer Frau verbracht hatte. Auch die Leute im Quartier wussten es. Er hatte gesehen, wie sie sich Blicke zuwarfen, als er zurückkam. Das bedeutete, in Kürze wüsste ein Großteil der englischen Truppen Bescheid. Innerhalb der Armee würde dies natürlich seinem Ruf nur förderlich sein. Doch es barg auch Gefahren. Die Leute würden fragen, wer das Mädchen sei. Und vielleicht würden sie es herausfinden.

Bei dem Gedanken überfiel ihn kalte Panik. Immerhin war Fionnuala die Tochter eines Kirchenmannes, der Lawrence O’Toole nahe stand und Oberhaupt einer bedeutenden irischen Familie war. Die Schwester eines Priesters, der an den Verhandlungen mit dem Hochkönig teilnahm. Also genau jene Leute, die Strongbow, sollte er wirklich Diarmaits Platz in Leinster einnehmen, als Freunde brauchte. Da spielte es keine Rolle, dass das Mädchen ihn verführt hatte. Indem er mit ihr schlief, entehrte er ihre Familie. Er hatte die Freundschaft mit Gilpatrick und die Gastfreundschaft seiner Eltern missbraucht. Sie würden ihm das nie verzeihen. Sie würden seinen Kopf fordern, und Strongbow würde ihn opfern, ohne mit der Wimper zu zucken. Er war erledigt.

Gab es einen Ausweg? Was wäre, wenn er die Affäre jetzt beendete und niemand davon erführe? Die Erinnerung an die soeben mit ihr verbrachte Nacht erfüllte ihn: ihr Duft, die hitzige, heftige Leidenschaft, die langen erotischen Momente, als ihr blasser Körper sich um seinen wand. Die meisten Männer, sagte er sich, würden wohl dem Tod ins Auge blicken, um Nächte wie diese zu erleben. Musste er das alles aufgeben?

Aber nun kam ihm eine andere Ansicht in den Sinn. Was wäre, wenn er die Sache einfach frech durchstünde? Wenn er mit der ganzen Angelegenheit wie mit einem militärischen Kampf umginge? Er wusste, ein Mann wie Strongbow würde so handeln. Sollte Fionnuala entdeckt werden, sollte herauskommen, dass sie entehrt worden war, wären ihre Chancen, einen irischen Prinzen zu heiraten, nicht allzu groß. Um ihren Ruf zu wahren, müsste ihre Familie, wenn auch widerwillig, zustimmen, sie ihm, Peter, zur Frau zu geben. Er dachte über die Lage ihres Vaters nach: das Einkommen aus den kirchlichen Besitztümern, der große Landstrich, der ihm unten an der Küste gehörte, und seine Viehherden. Fionnuala würde zwangsläufig eine hübsche Mitgift bekommen, und wäre es auch nur, um die Ehre der Familie zu bewahren. Wäre es nicht wahrscheinlich, dass er als Ehemann eines Mädchens aus einer solch führenden Familie aus Leinster das Interesse Strongbows wecken würde, der selbst mit einer Leinster Prinzessin verheiratet war? Bewahrte er einen kühlen Kopf, könnte sich diese Sache als das Beste heraussteilen, das er je in seinem Leben getan hatte.

Zwei Tage später verbrachte er wieder die Nacht mit Fionnuala.

* * *

Sechs Wochen waren vergangen, und Strongbow wusste, dass er, auch wenn seine Truppen auf knappe Ration gesetzt waren, höchstens noch drei, vier Wochen aushalten konnte. Danach wären sie gezwungen, die ersten Pferde zu töten.

Gilpatrick war daher nicht überrascht, als Erzbischof O’Toole ihn in der sechsten Woche der Belagerung aufforderte, sich einer Mission zum Lager des Hochkönigs anzuschließen. Offensichtlich war er der Einzige, der den großen Mann bei dieser Gelegenheit begleiten sollte. Sie brachen am Mittag auf, ritten über die lange Holzbrücke zum Nordufer des Liffey und dann westlich über einen schmalen Pfad am Fluss entlang zu einer Stelle, wo der König sie erwarten würde.

Der Erzbischof sah müde aus. Sein asketisches, fein geschnittenes Gesicht zeigte um die Augen herum Spuren der Belastung; und Gilpatrick wusste, dass dies nicht allein auf der Last seiner Verantwortung gründete, sondern dass er mit seiner empfindsamen, poetischen Natur geradezu körperlich litt, wenn er das Leiden anderer sah. Als im Jahr zuvor der König von Dublin nach seinem erfolglosen Angriff getötet wurde, war der fromme Bischof sichtbar niedergeschlagen gewesen. Nun war er deutlich in Sorge, da die Angebote, die der Hochkönig Strongbow unterbreitet hatte, noch immer nicht angenommen worden waren und er nur Leiden und Blutvergießen voraussah.

Als sie zum Treffpunkt kamen, sahen sie, dass man ihnen einen stattlichen Empfang bereitete. Eine große, strohgedeckte Halle, die nach Norden eine Wand aus Weidengeflecht hatte und zu den anderen Seiten offen war, war errichtet worden. Darin standen Bänke, bedeckt mit wollenen Kissen und Tüchern, und Tische, auf denen sich ein üppiges Festmahl türmte. Der Hochkönig und einige seiner bedeutendsten Stammesoberhäupter begrüßten sie herzlich und respektvoll und luden sie ein zu essen, was zumindest Gilpatrick mit Freuden tat. Auch der tiefere Sinn dieses Festessens war ihm trotz all der aufrichtigen Freundlichkeit nicht entgangen. Der Hochkönig ließ sie wissen, er habe reiche Vorräte, während ihm Gilpatricks Gesicht verriet, was er vermutet hatte, dass nämlich die Lebensmittel knapp wurden in der Stadt.

Der O’Connor–König war ein hoch gewachsener, mächtiger Mann mit einem breiten Gesicht und einer Flut schwarzer Locken, die ihm auf die Schultern fielen. Seine dunklen Augen hatten einen sanften Schimmer, der, wie Gilpatrick gehört hatte, die Frauen faszinierte.

»Ich bin seit sechs Wochen hier«, sprach er zu ihnen. »Doch wie Ihr erkennt, ist unser Standort von der Stadt aus nicht zu sehen, darum verratet bitte nicht, wo wir sind. Ich kann jeden Morgen ans Ufer des Liffey hinuntergehen und baden.« Er lächelte. »Wenn Strongbow es möchte, würde ich mich glücklich schätzen, ein, zwei Jahre hier zu bleiben.«

Gilpatrick aß mit Genuss. Selbst der asketische Erzbischof war bereit, ein, zwei Gläser Wein zu trinken. Und zu Gilpatricks Entzücken wurden sie von einem kunstfertigen Harfenspieler unterhalten; und noch besser, ein Barde trug für sie die alte irische Sage von Cuchulainn dem Krieger vor und wie er zu seinem Namen kam. Die Hand voll Männer war in heiterer Stimmung, als sie anfingen, das Problem mit den Engländern zu erörtern.

»Ich habe ein neues Angebot«, eröffnete der Erzbischof, »und es wird Euch überraschen. Strongbow will noch immer Leinster haben. Aber«, er stockte, »aber er ist gewillt, es auf die ureigene irische Weise zu regieren. Er wird Euch einen Eid schwören, Euch Geiseln bieten, so dass Ihr sein Oberherr wäret.« Er sah den Hochkönig sehr genau an. »Ich weiß, Ihr glaubtet, er hätte die Absicht, die ganze Insel zu erobern, aber dem ist nicht so. Er ist bereit, Leinster aus Eurer Hand entgegenzunehmen und Euch den Respekt zu zollen, der Euch gebührt. Ich denke, dieses Angebot sollte ernst genommen werden.«

»Er würde Leinster regieren, wie es Diarmait getan hat?«

»Ja.«

Der Hochkönig seufzte, dann streckte er seine langen Arme aus. »Aber ist nicht gerade dies das Problem, Lorcan?« Sie sprachen Irisch, und er nannte den Erzbischof bei seinem irischen Namen. »Ihr hättet Diarmait nicht über den Weg getraut. Der Mann war fähig, den Eid zu brechen und dafür seinen eigenen Sohn zu opfern. Meint Ihr, Strongbow ist einen Deut besser?«

»Zwar ist er nicht mein Freund«, gestand O’Toole offen, »aber er ist ein Ehrenmann.«

»Wenn das stimmt, Lorcan, dann erkläre mir eins: Wie ist es möglich, dass dieser Ehrenmann bereit ist, mir als Oberherrn einen Eid zu schwören, wenn er bereits König Heinrich von England einen Eid geschworen hat?«

Der Erzbischof sah verblüfft aus. Er warf Gilpatrick einen Blick zu.

»Ich denke«, hob Gilpatrick an, »ich kann Euch das erklären. Seht, genau genommen glaube ich nicht, dass Strongbow Heinrich II. für seine irischen Ländereien Anerkennung gezollt hat. So wäret Ihr sein Oberherr für Leinster und Heinrich der für seine Landbesitzungen in England.« Gilpatrick merkte, wie verblüfft seine Verhandlungspartner über diese Erklärung waren, und fuhr fort: »Dort drüben hat jedes Eckchen Land einen Lord, und so zollt man für jedes Stück Land, das man besitzt, einem anderen Lord Anerkennung. Viele große Lords huldigen Heinrich für ihre Ländereien in England und dem französischen König für ihre Ländereien in Frankreich.«

»Aber wem gegenüber sind sie denn loyal?«, fragte der Hochkönig.

»Das hängt davon ab, wo sie sich gerade aufhalten.«

»Lieber Gott, was sind denn diese Engländer für Leute? Kein Wunder, dass Diarmait sie mochte.«

»Ein Eid ist für sie nicht sosehr eine persönliche Angelegenheit«, sagte Gilpatrick, »sondern eher eine Rechtsform. Ich glaube, man könnte sagen, sie haben größeres Interesse am Land als an den Leuten.«

»Gott vergebe ihnen«, murmelte der Erzbischof, während er und der O’Connor–König sich entsetzte Blicke zuwarfen.

»Glaubt Ihr, man könnte Strongbow, wenn er Leinster hätte und die Möglichkeit, alle seine bewaffneten Männer zu entlohnen sowie alle anderen, die er sich vielleicht noch dazuholt, das Vertrauen entgegenbringen, dass er nicht die anderen irischen Provinzen angreift?«, fragte der Hochkönig. Und ehe der fromme Erzbischof überhaupt eine Antwort geben konnte, fuhr er fort: »Wir haben Strongbow sicher in Dublin eingekesselt, Lorcan. Er kann nichts tun. Lasst ihn dort, bis er unser Angebot, die Hafenstädte zu behalten, annimmt. Entweder dies oder eine Hungersnot.«

* * *

Für Fionnuala waren die berauschenden Sommerwochen eine Offenbarung. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie immer nur gelangweilt gewesen: gelangweilt von ihren Eltern, ihren Brüdern, dem herzensguten Palmer und seiner Frau. Sogar Una, die es gut mit ihr meinte, aber immer versuchte, sie zu zähmen, hatte sie gelangweilt. In ihrer Gegenwart fühlte Fionnuala sich wie ein hochgezüchtetes Rennpferd, das man zwingt, einen schweren Wagen zu ziehen.

Auch die Dubliner Jungs oder die Männer im Hospiz, mit denen sie schäkerte, hatten sie im Grunde nur angeödet. Als jedoch Gilpatricks Freund, der Waliser Ritter, in ihrem Elternhaus aufgetaucht war, hatte sie sofort gedacht, er sei der bestaussehende junge Mann, den sie bisher gesehen habe. Und sie hatte sofort gewusst, dass er derjenige war, der ihr die Tore zu großen Abenteuern öffnen könnte.

»Waliser«, nannte sie ihn, wie es auch ihr Vater getan hatte. »Mein Waliser.« Sie kannte jede Locke seines Haars, jeden Zentimeter seines stolzen jungen Körpers. Hinzu kam der Nervenkitzel der Heimlichkeit. Zu wissen, dass sie ihre Umgebung täuschte, steigerte ihre Erregung, wenn sie sich auf den Weg zu ihrem Stelldichein machte. Die Gewissheit, geradewegs aus seinem Bett zu kommen, während Una ihrer ernsthaften Arbeit nachging, erfüllte die Morgenstunden im Hospiz mit Licht und Leben.

Drei Tage nach der gescheiterten Mission ihres Bruders beim Hochkönig sah Fionnuala, als sie am Eingang des Hospizes stand, Una vom westlichen Stadttor herbeieilen. Es war kurz vor zwölf. Fionnuala hatte die Nacht zuvor mit Peter in der Nähe des Quais verbracht und war wie üblich am frühen Morgen ins Hospiz gekommen. Vor einer Stunde war Una für eine Besorgung in die Stadt gegangen. Jetzt hastete sie zurück, als wäre sie von einer Biene gestochen worden.

»Wen treffe ich, nachdem ich in der Kathedrale war, um ein Gebet für meine arme Familie zu sprechen – und auch für dich, Fionnuala? Niemand anderen als deinen Vater.« Una zerrte Fionnuala zur Ecke des Siechenhauses, wo sie nicht belauscht werden konnten. »Und er sagt zu mir: ›Es ist gut, dass Fionnuala so viel Zeit im Hospiz verbringt. Da sie aber letzte Nacht bei dir war, konnte ich ihr nicht sagen, sie möge heute Abend früh nach Hause kommen. Wir haben Gäste. Wirst du ihr das ausrichten?‹ Und da stehe ich wie eine Idiotin und sage: ›Ja, guter Gilpatrick, das werde ich tun.‹ Beinahe wäre mir rausgerutscht, dass du gar nicht im Hospiz warst.« Sie starrte Fionnuala mit weit aufgerissenen Augen tadelnd an. »Wenn du also nicht hier und nicht dort warst, wo warst du dann in Gottes Namen?«

»Ich war woanders.«

»Spiel keine Spielchen mit mir, Fionnuala.« Una stieg die Zornesröte ins Gesicht. Forschend sah sie ihre Freundin an. »Du willst doch nicht sagen… Oh Gott, Fionnuala, warst du bei einem Mann?«

»Kann schon sein.«

»Bist du von Sinnen? Um Himmels willen, wer ist es?«

»Das sage ich nicht.«

Die Ohrfeige traf Fionnuala so überraschend, dass sie fast ins Wanken geriet. Sie schlug zurück, doch Una war darauf vorbereitet und fing ihre Hand ab.

»Du kindische Närrin!«, rief Una.

»Du bist nur eifersüchtig.«

»Das sieht dir ähnlich, so etwas zu denken. Machst du dir keine Gedanken, was aus dir werden soll? Keine Sorgen um deinen Ruf und deine Familie?«

Fionnuala wurde rot. Sie spürte, wie allmählich Wut in ihr hochstieg.

»Wenn du weiter so schreist«, zischte sie ärgerlich, »wird es ohnehin ganz Dublin wissen.«

»Du musst damit aufhören, Fionnuala.« Una flüsterte jetzt beinah. »Du musst sofort damit aufhören. Ehe es zu spät ist.«

»Vielleicht ja. Vielleicht auch nicht.«

»Ich sage es deinem Vater. Er wird dafür sorgen, dass du aufhörst.«

»Ich dachte, du wärst meine Freundin.«

»Bin ich ja. Genau darum werde ich es ihm sagen. Um dich vor dir selbst zu schützen.«

Fionnuala war still. Ganz besonders störte sie der herrische Ton ihrer Freundin. Wie konnte sie es wagen, so über sie zu bestimmen?

»Wenn du mich verrätst, Una«, sprach sie langsam, »bringe ich dich um.« Sie hatte es so ruhig und mit solchem Nachdruck gesagt, dass Una bleich wurde. Fionnuala sah sie unverwandt an. Meinte sie es ernst? Sie wusste es selbst nicht genau. Aber sie spürte, dass ihre Drohung nichts nutzte.

Dann senkte sie den Blick und stöhnte. »Oh, es ist so hart, Una.«

»Ich weiß.«

»Ich werde ihn nicht mehr sehen, Una. Bestimmt.«

»Versprichst du es mir?«

»Ich verspreche es, Una. Ich gebe ihn auf. Ich verspreche es.«

Dann umarmten die beiden Mädchen sich, weinten beide. Una murmelte: »Ich weiß, ich weiß.« Und Fionnuala dachte, du weißt überhaupt nichts, du Tugendbold.

»Aber du darfst mich jetzt nicht verpetzen, Una«, bat Fionnuala. »Selbst wenn ich nie wieder in meinem Leben diesen Mann ansehe, weißt du, was mein Vater tun würde. Er würde mich verprügeln und mich ins Kloster drüben in Hoggen Green stecken. Damit hat er mir schon früher gedroht, weißt du. Versprichst du mir, mich nicht zu verraten, Una?«

»Ja, ich verspreche es«, sagte Una.

Fionnuala war sehr nachdenklich, als sie an jenem Abend nach Hause ging. Wenn sie das Verhältnis fortsetzen wollte, ohne dass Una es merkte, würde sie sich besondere Vorsichtsmaßnahmen einfallen lassen müssen. Vielleicht sollte sie eines Morgens mit ihrem Vater oder ihrem Bruder ins Hospiz kommen, um zu zeigen, dass sie zu Hause gewesen war. Sie würde Peter jetzt erst einmal nur noch am Nachmittag treffen können. Sobald sie dann Unas Verdacht zerstreut hätte, könnten sie sicher auch wieder die Nächte zusammen verbringen.

Als sie an das Tor ihres Elternhauses kam, bemerkte sie die beiden Pferde und erinnerte sich, dass ja Gäste hier sein sollten. Es fiel ihr gerade noch ein, ihre Kleider glatt zu streichen und mit der Hand durchs Haar zu fahren, ehe sie durch das Tor schritt. Da es Sommer war, standen Bänke und Tische auf der Wiese. Ihre Eltern und ihr Bruder Gilpatrick saßen da und lächelten. Sie drehten sich zu ihr um, als hätten sie alle auf sie gewartet und gerade über sie gesprochen.

Ihre Mutter trat lächelnd, aber auch mit einem seltsamen Blick auf sie zu.

»Komm, Fionnuala«, sagte sie. »Unsere Gäste sind bereits eingetroffen. Begrüße Brendan und Ruairi O’Byrne, wie es sich geziemt.«

* * *

Eine Woche nach Unas Drohung trafen Peter FitzDavid und Fionnuala sich noch immer heimlich, wenngleich nur am Nachmittag oder in den frühen Abendstunden. Das Auftauchen der O’Byrne–Cousins war dabei durchaus hilfreich gewesen. Fionnuala hatte ihren Vater ermuntert, die beiden eines Tages mit ins Hospiz zu bringen. Dort hatten sie Fionnuala sittsam und gottesfürchtig erlebt. Und Una wusste nun, dass Fionnuala einen ernsthaften Bewerber in Aussicht hatte. »Sie kann sich nicht einmal vorstellen«, erzählte sie Peter lachend, »dass ich einen anderen Mann ansehe, wenn ich doch die Chance habe, einen O’Byrne zu heiraten.«

Peter nahm die Neuankömmlinge nicht so unbeschwert auf. Von Gilpatrick hatte er erfahren, dass Brendan O’Byrne der Auserwählte war, den sich seine Eltern für ihre Tochter wünschten; aber ob er Fionnuala mochte und ob die fürstlichen O’Byrnes vielleicht meinten, Brendan könne eine Bessere finden, musste sich erst noch herausstellen. Mit seinem Cousin Ruairi verhielt es sich anders, und Gilpatricks Eltern waren nicht besonders erfreut, ihn zu sehen. »Brendan ist ein netter aufrechter Mann, aber Ruairi ist der Größere von beiden.« Gilpatrick warf Peter einen finsteren Blick zu. »Ich weiß nicht, warum er hier ist«, murmelte er.

Peter glaubte es zu erraten. Brendan hatte wahrscheinlich seinen Cousin zur Tarnung mitgebracht. Wäre er allein gekommen, wäre es zu augenfällig gewesen; sollte er sich entscheiden, Fionnuala keinen Antrag zu machen, könnte das Stammesoberhaupt enttäuscht oder sogar beleidigt sein; machten jedoch die beiden Cousins einen höflichen Besuch und reisten wieder ab, könnte ihm niemand etwas Schlechtes nachsagen.

Sollte er auf diesen vorsichtigen jungen Prinzen eifersüchtig sein?, fragte sich Peter. Ja, vielleicht. O’Byrne hatte den Reichtum und die gesellschaftliche Bedeutung, die ihm selbst fehlten. Er wäre eine exzellente Partie für Fionnuala. Hätte ich auch nur einen Hauch Anstand, dachte er, sollte ich beiseite treten und aufhören, die Zeit dieses Mädchens zu vergeuden. Doch dann war sie wieder zu seinem Quartier gekommen und hatte sich an ihn geschmiegt, und er hatte sogleich nachgegeben.

Fionnuala brachte ihm nicht nur ihre Lust, sondern auch etwas zu essen. Lebensmittel wurden in der Stadt immer knapper. Selbst Gilpatrick hungerte. »Mein Vater hat jede Menge Vorräte in der Kirche«, erklärte er. »Und niemand hindert mich daran, ihn zu besuchen. Doch das Problem ist der Erzbischof. Er sagt, wir müssen genauso leiden wie die Leute in der Stadt. Der Haken ist, er isst nie mehr als ein Stück Brotrinde.«

Als Peter eines Morgens, nachdem er seine Männer hatte wegtreten lassen, von seinem Wachdienst auf der Stadtmauer zurückkehrte und sich schon auf das Rendezvous mit Fionnuala am Nachmittag freute, sah er Strongbow an der Christ Church. Der große Lord stand allein da und starrte scheinbar gedankenverloren auf den Fluss; und Peter, der glaubte, der Earl of Pembroke hätte ihn nicht bemerkt, ging still an ihm vorbei, als er plötzlich den Magnaten seinen Namen sagen hörte. Er drehte sich um.

Strongbows Gesicht war unbewegt, doch Peter schien es so, als sähe er niedergeschlagen aus. Kein Wunder. Obwohl die Belagerer sorgenfrei weit vor den Mauern lagerten, hatten sie ein scharfes Auge auf die Tore. Es war unmöglich, Spähtrupps auszusenden. Zwei Tage zuvor hatte Strongbow im Schutz der Dunkelheit ein Boot hinausgeschickt, um zu überprüfen, ob Lieferungen auf dem Wasserweg hineingeschmuggelt werden könnten; doch der Feind hatte das Boot gegenüber von Clontarf geschnappt und es bei kommender Flut unter Beschuss zurückgeschickt. Unter den Dublinern und auch unter den englischen Soldaten raunte man: »Der Hochkönig hat ihn bezwungen.« Doch der Earl of Pembroke war ein erfahrener Befehlshaber; Peter glaubte nicht, dass er sich ihm bereits geschlagen gab.

Strongbow musterte ihn prüfend, als überlegte er etwas. »Wisst Ihr, was ich im Augenblick brauche, Peter FitzDavid?«, fragte er leise.

»Einen weiteren Nebeltag«, schlug Peter vor. »Dann könnten wir uns zumindest hinausschleichen.«

»Ja, vielleicht. Aber vor allem muss ich unbedingt wissen, wo der Aufenthaltsort des Hochkönigs und wie die exakte Aufstellung seiner Streitkräfte ist.«

Er plant also einen Ausbruch, dachte Peter. Tatsächlich gab es keine andere Möglichkeit. Um aber auch nur die geringste Hoffnung auf Erfolg zu haben, müsste er die Belagerer in einem Überraschungsangriff überrennen.

»Wünscht Ihr, dass ich heute Nacht hinausgehe und spähe?«, fragte er. Würde er erfolgreich zurückkehren, brächte ihm dies sicher hohe Gunst ein.

»Vielleicht. Ich bin nicht sicher, ob es Euch gelingt.« Seine Augen fixierten Peter, dann senkte er den Blick. »Der Erzbischof und der junge Priester wissen es wahrscheinlich. Wie ist noch sein Name? Vater Gilpatrick. Aber ich kann sie selbstverständlich nicht fragen.«

»Ich kenne Gilpatrick, aber er würde es mir nie verraten.«

»Nein. Aber Ihr könntet seine Schwester fragen.« Strongbow richtete seinen Blick wieder auf den Fluss. »Wenn Ihr sie das nächste Mal seht.«

Peter spürte, wie er blass wurde. Der Earl of Pembroke wusste es also. Er und wie viele andere noch? Doch das Schlimmste von allem war die Aufforderung, Fionnuala als Spionin zu missbrauchen oder sie zumindest auszuhorchen. Aber wenn er Strongbows Gunst erlangen wollte, täte er gut daran, etwas herauszufinden.

Die Chance dazu ergab sich schon am selben Nachmittag. Sie hatten sich im Haus geliebt. Es blieb ihnen noch eine Stunde, bis Fionnuala gehen müsste, und sie unterhielten sich ungezwungen über die O’Byrnes, die am nächsten Tag wieder erwartet wurden, und über ihr Leben zu Hause. »Ich glaube«, sagte Peter, »Strongbow wird sich bald dem Hochkönig ergeben müssen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich noch einen weiteren Monat halten kann. Und es besteht keine Aussicht, dass uns jemand zu Hilfe kommt. Ich bin froh, wenn es vorbei ist. Dann kann ich kommen und bei euch essen, wie es dein Vater versprochen hat. Wenn du bis dahin nicht Brendan O’Byrne geheiratet hast…«, fügte er unsicher hinzu.

»Sei nicht albern.« Sie lachte. »Ich heirate Brendan nicht. Und die Belagerung muss ja auch bald ein Ende haben.«

Das war die Gelegenheit.

»Wirklich?« Scheinbar wollte er nur eine Bestätigung haben. »Ist das auch Gilpatricks Meinung?«

»Ja. Ich habe ihn erst gestern belauscht, als er meinem Vater erzählte, der Hochkönig habe sein Lager flussaufwärts aufgeschlagen. Und da er so genau wisse, dass die Engländer keine Chance hätten, gingen seine Männer jeden Tag in der Liffey baden.«

»Was?«

»Ja, mit allen großen Stammesoberhäuptern. Sie machen sich nicht die geringsten Sorgen.«

Peter FitzDavid stockte der Atem. Beinahe wäre ein Ausdruck der Freude auf sein Gesicht getreten, doch er beherrschte sich, setzte eine finstere Miene auf und murmelte: »Dann haben wir keine Chance. Es ist so gut wie vorbei.« Er hielt inne. »Du erzählst besser niemandem, was ich gesagt habe, Fionnuala. Wenn Strongbow je davon erfahren sollte… würde man an meiner Loyalität zweifeln.«

»Sei unbesorgt«, beruhigte sie ihn.

Doch seine Gedanken überschlugen sich bereits.

* * *

Am folgenden Nachmittag beobachteten die Wächter an den irischen Vorposten, dass Fionnuala das Hospiz verließ und wie üblich durch das Westtor in die Stadt kam. Da sie jedoch das Südtor nicht im Blick hatten, wussten sie nie, wie lange sie sich in Dublin aufhielt, bis sie nach Hause ging; und daher hatten sie keine Ahnung, dass sie auf dem Weg zu Peters Unterkunft war und dort fast bis zum Einbruch der Dunkelheit blieb – bis der Beobachtungsposten in der Nähe ihres Elternhauses sie zum Südtor hinausgehen und nach Hause laufen sah.

Es war fast dunkel, als die Wachposten auf der Westseite beobachteten, dass Fionnuala mit dem safranfarbenen Schal, den sie sich um den Kopf geschlungen hatte, zum Hospiz zurückkehrte. Es war ungewöhnlich, dass sie es am selben Tag verließ und dorthin zurückkehrte, doch sie sahen sie in den Hof des Hospizes gehen und dachten nicht weiter darüber nach. Daher waren sie am nächsten Abend verblüfft, als sie sie wieder zum Siechenhaus gehen sahen. »Hast du sie heute nach Dublin zurückgehen sehen?«, fragte ein Wächter seinen Kollegen. Dann zuckte er die Achseln. »Ich muss sie übersehen haben.« Im Morgengrauen des nächsten Tages huschte sie vom Hospiz zurück zum Westtor. Doch eine Stunde später machte sie denselben Weg noch einmal. Das war schier unmöglich. Die Wachen folgerten, dass da etwas Merkwürdiges im Gange war. Sie beschlossen, sie genauer zu beobachten.

* * *

Als Peter am ersten Abend das Siechenhaus erreicht hatte, war er durch das Tor geeilt und dann mit dem Rücken am Zaun niedergesunken. Niemand konnte ihn sehen. Um diese Uhrzeit befanden sich alle Insassen im Haus. Er nahm den Schal vom Kopf und wartete. Langsam senkte sich die Dunkelheit über ihn. Zu dieser Sommerszeit war es nur etwa drei Stunden richtig dunkel. Am Himmel zogen dichte Wolken, und der Mond schimmerte nur ab und zu hindurch. Das war gut. Er brauchte ein wenig Licht, aber nicht zu viel. Er wartete dort bis nach Mitternacht, ehe er sich von der Stelle rührte.

Jenseits des Hospizes verlief die breite Trasse der alten Straße, Slige Mhor, die nach Westen führte. Nach einer knappen Meile wurde sie von einem großen Truppenkontingent blockiert. Er wollte die Slige Mhor völlig meiden. Er wusste, dass sich an der anderen, dem Fluss zugewandten Seite des Hospizes ein schmales Tor befand. Er schlich um das Haus herum und trat hinaus. Vor ihm lag offenes Land mit vereinzelten Büschen, das sich bis zum sumpfigen Ufer des Flusses erstreckte. Mit viel Glück könnte es ihm in der Dunkelheit gelingen, sich bis dahin durchzustehlen.

Er brauchte eine Stunde – vorsichtig suchte er sich seinen Weg und bewegte sich nur, wenn der Mond hinter Wolken verschwunden war –, bis er das irische Lager, das beidseits der Straße lag, hinter sich gelassen hatte. Danach konnte er schneller, aber stets sehr behutsam am Ufer entlang vorrücken, bis er zu der Stelle kam, wo er gegenüber das Feldlager des Hochkönigs vermutete. Auf einem etwas vorspringenden Abhang, wo er sich zwischen Büschen versteckte, richtete er sich darauf ein, die restliche Nacht auszuharren.

Am nächsten Tag entdeckte er das Lager des Hochkönigs nur etwa eine halbe Meile flussaufwärts. Früh am Morgen sah er Spähtrupps ausschwärmen. Wenige Stunden später kehrten sie zurück. Und kurz darauf beobachtete er, dass mindestens Hundert Mann ins Wasser gingen, wo sie ausgiebig badeten. Spielerisch warfen sie einen Ball hin und her. Als sie alle wieder ans Ufer geklettert waren, sah er die Sonne auf ihren nassen nackten Körpern glitzern.

Den Rest des Vormittags hockte er in seinem Versteck. Er hatte einen halben Brotlaib dabei und eine kleine lederne, mit Wasser gefüllte Feldflasche. Sorgsam prägte er sich das umliegende Gelände ein. Das würde lebenswichtig sein, sollte er seinen weiteren Plan ausführen können. Eine Stunde später verließ er sein Schlupfloch, um vorsichtig über einige Wiesen bis zu einer bewaldeten Anhöhe zu schleichen. Erst am Abend, als er wieder in sein Versteck schlüpfte, war er überzeugt, dass sein Plan funktionieren könnte. Erst bei vollständiger Dunkelheit machte er sich auf den Rückweg zum Hospiz. Es berührte ihn seltsam, am Tor des Siechenhauses zu warten, da er wusste, dass Fionnuala hier in dieser Nacht nur wenige Meter von ihm entfernt arbeitete; dennoch harrte er bis zum Morgengrauen aus, um dann endlich, in seinen Schal gehüllt, an den irischen Vorposten, die ihn für Fionnuala hielten, vorbeizugehen. Im Laufe des Vormittags traf er Strongbow.

Er erzählte ihm jedes Detail, wie er sich hinausgestohlen und gespäht und den Hochkönig beim Baden entdeckt hatte; mit einer kleinen Ausnahme: Alle Einzelheiten, die auf Fionnuala verwiesen, verschwieg er. Falls Strongbow die Wahrheit ahnte, so schwieg auch er. Nachdem Peter seinen Bericht beendet hatte, war Strongbow nachdenklich. »Um den größten Vorteil aus diesen Neuigkeiten zu schlagen«, sagte der Earl of Pembroke, »müssen wir sie beim Baden überraschen, wenn ihre Deckung schwach ist. Doch wie können wir das anstellen?«

»Darüber habe ich schon nachgedacht«, meinte Peter. Und er schilderte Strongbow seinen weiteren Plan.

»Könnt Ihr noch einmal an den Wachen vorbei hinaus?«, fragte Strongbow, und Peter nickte. »Wie?«

»Fragt mich nicht«, antwortete Peter. »Morgen früh wird Ebbe sein«, fügte er noch hinzu, »so dass die Männer sowohl die Furt als auch die Brücke nutzen können, um hinüberzukommen.«

»Und wo sollen wir die Männer stationieren, damit sie Euer Zeichen sehen?«

»Ah.« Peter lächelte. »Auf dem Dach der Christ Church.«

»Der Plan ist keineswegs ohne Risiken«, stellte Strongbow fest. »Doch wenn er klappt, habt Ihr sehr gute Arbeit geleistet. Doch wir brauchen einen klaren, sonnigen Vormittag.«

»Ja, das stimmt«, gab Peter zu.

»Nun gut«, sagte Strongbow abschließend. »Es ist einen Versuch wert.«

* * *

Bei Sonnenuntergang sahen die Wachen am Vorposten, wie eine Gestalt vom Westtor aus Richtung Hospiz ging. Am Morgen hatten sie bereits Una angehalten und vor einer Stunde Fionnuala, um ihre Identität sicherzustellen. Auch diesmal beschlossen sie, die Person zu überprüfen, so dass einer von ihnen rasch vorritt. Obwohl die Gestalt Priesterkleidung trug, war der Wächter misstrauisch.

»Wer seid Ihr und wohin geht Ihr?« Der Wächter sprach ihn auf Irisch an.

»Vater Peter ist mein Name, mein Sohn.« Auch die Antwort kam in einem flüssigen Irisch. »Ich bin auf dem Weg zum Hospiz, um eine arme Seele zu besuchen.« Er zog seine Kapuze vom Kopf, um seine Tonsur zu zeigen, und lächelte den Wächter freundlich an. »Ich glaube, ich werde erwartet.«

In diesem Augenblick öffnete sich das Tor des Siechenhauses, und Fionnuala erschien. Sie winkte zum Zeichen, dass sie den Priester erkannte, und erwartete ihn höflich am Eingang.

»Geht Eures Weges, Vater«, sagte der Wächter ein wenig verlegen.

»Danke. Ich werde wohl nicht vor morgen zurückkommen. Gott sei mit dir, mein Sohn.« Er zog seine Kapuze wieder über den Kopf und ging weiter. Und der Wächter beobachtete, wie Fionnuala ihn durch das Tor geleitete, das sich hinter ihnen beiden schloss.

»Ein Priester«, berichtete der Wächter seinen Gefährten. »Er wird erst morgen zurückkommen.« Und niemand dachte weiter über ihn nach.

Unterdessen führte Fionnuala im Hospiz Peter in den Raum, der ihnen zur Verfügung stand – ein abgetrenntes Zimmer, das man hinter dem Männerschlafsaal durch eine Außentür betrat, wo sie, wie die freundliche, leichtgläubige Una versprochen hatte, ungestört sein würden. Fionnuala hatte ihr erklärt, sie suche geistlichen Rat und wolle einen Priester ins Hospiz kommen lassen, um bei ihm die Beichte abzulegen.

Als sie in das Zimmer kamen und Peter wieder die Kapuze abstreifte, konnte Fionnuala kaum das Lachen unterdrücken.

»Du hast eine Tonsur«, flüsterte sie. »Genau wie Gilpatrick.«

»Ja, sonst hätte ich Probleme bekommen mit diesem Wächter.«

Bis jetzt hatte alles perfekt geklappt, gratulierte sich Peter. Es tat ihm Leid, dass er Fionnuala täuschen musste, dass er ihren Leichtsinn ausnutzte; doch es geschieht für ein höheres Ziel, tröstete er sich.

Sie betraten das Zimmer, in dem Fionnuala bereits zwei Kerzen angezündet und ein kleines Essen aufgetischt hatte. Sie strich über seine Tonsur. »Ich könnte jetzt meinen«, sagte sie durchtrieben, »ich hätte einen Priester zum Geliebten.« Rätselnd schaute sie ihn an. »Wie willst du in den nächsten Tagen deinen geschorenen Kopf erklären?«

»Ich werde ihn bedecken«, sagte er.

»Und all das hast du für mich getan?«

»Ja«, log er. »Und ich würde es wieder tun.«

Sie sprachen eine Weile. Bevor sie sich liebten, zog Peter seine Priesterkutte aus. Fionnuala bemerkte, dass er auch ein steifes Kissen, das mit Schnüren um seine Taille befestigt war, ablegte. »Rückenschmerzen«, erklärte er verlegen. »Ich werde dich massieren«, sagte sie.

Der Morgen dämmerte schon leicht, als sie erwachte und feststellte, dass er fort war.

Peter hatte sich leise, aber rasch von dannen gemacht. Nachdem er durch das nördliche Tor des Hospizes hinausgehuscht war, näherte er sich der kleinen bewaldeten Anhöhe, die er vor zwei Tagen ausgekundschaftet hatte. Schon hatte er einen Aussichtspunkt gefunden: einen hohen Baum, von dessen Krone er die ganze Gegend überblicken konnte. Wenn er die Blätter beiseite schob, schaute er auf das Flussufer, wohin die Männer des irischen Hochkönigs kommen würden; nach Osten sah er bis Dublin, bis zum Dach der Christ–Church–Kathedrale. Er löste die Schnüre um seine Taille und nahm das Kissen von seinem Rücken. Ruhig öffnete er die Stoffhülle und zog den dünnen, harten Gegenstand daraus hervor.

Es war eine Platte aus Stahl, die so glänzend poliert war, dass man in ihr wie in einem Spiegel jede Pore des Gesichts erkennen konnte. Strongbow hatte sie ihm gegeben. Peter schaute nach Osten und lächelte. Der Himmel wurde heller, dann rötlich und golden. Und dann sah er über der entfernten Bucht die Sonne wie einen Feuerball aufgehen.

Natürlich bestand die Gefahr, dass er, wenn er das Zeichen sandte, sich selbst verriet. Wenn ihn die irischen Belagerer schnappten, würden sie ihn gewiss töten. Er an ihrer Stelle würde dasselbe tun. Doch angesichts der Gunstbezeugungen, die er von Strongbow bei einer erfolgreichen Mission erwarten durfte, war das Risiko gering. Trotz seiner Aufregung wartete er geduldig. Es wurde wärmer. Die Sonne hob sich über die Bucht.

Die Patrouillen des Hochkönigs müssten nun bald ausschwärmen. Er wartete und wartete, doch nichts geschah. Vielleicht würden die Iren heute überhaupt nicht baden gehen. Er fluchte leise. Eine weitere Stunde verging; es war nun fast zwölf Uhr. Endlich schien sich etwas im Lager zu rühren. Über dem Flussufer sah er eine Gruppe Männer auftauchen, die einen großen Gegenstand schleppten; er konnte jedoch nicht erkennen, was es war. Sie setzten ihre Last oben an der Böschung ab. Immer mehr Männer strömten herbei. Es sah aus, als trügen sie Kübel. Und plötzlich verstand er, was sie taten: Sie füllten einen großen Zuber. Er wusste, dass die Iren gerne ein Bad in einem Zuber nahmen, dessen Wasser mit heißen Steinen erhitzt wurde. Das Absetzen dieses großen Badezubers konnte also nur eines bedeuten – der Hochkönig von Irland würde ein zeremonielles Bad nehmen.

Kaum war oben an der Böschung alles bereit, beobachtete er, wie eine einzelne Gestalt aus dem Lager heraustrat, die von etwa einem Dutzend Männern begleitet wurde. Wenig später hoben sie die Gestalt in den großen Badezuber. Während der O’Connor–König, umgeben von seinen Gefährten, die königliehe Waschung zelebrierte, plantschten seine Mannen unten am Fluss.

Peter konnte sein Glück kaum fassen. Er drehte den Stahlspiegel herum und justierte sorgfältig den Winkel. Er drehte die Stahlplatte nun hin und her.

Auf dem Dach der Christ Church sah der Wachposten das kleine grünlich schimmernde Licht aufblitzen. Das war das verabredete Zeichen. Kurz darauf sprangen das Süd– und das Westtor auf; hundert leicht bewaffnete Reiter mit fünfhundert Mann Fußvolk im Gefolge stürmten zur Furt, während zweihundert Ritter in ihren Rüstungen im Galopp über die Holzbrücke donnerten.

* * *

Als die englischen Truppen die irischen Linien durchbrachen und am Liffey entlang auf die Wiese zustürmten, wo der Hochkönig sein Bad nahm, blieb dem O’Connor–König nur eben Zeit, seine Kleider zu raffen und sich mit einem Satz in Sicherheit zu bringen. Die irischen Fußsoldaten um sein Lager herum wurden abgeschlachtet. Innerhalb weniger Stunden wussten alle belagernden Streitkräfte, dass der Hochkönig gedemütigt worden war und Strongbows Armee sich befreit hatte. Die kampferprobten englischen Truppen rückten unaufhaltsam vor. Speerspitzenangriffe der gepanzerten Kavallerie vernichteten alle umliegenden Lager. Die Iren konnten mit der hochgezüchteten europäischen Kampfmaschine im offenen Feld nicht mithalten. Ihre Gegenwehr erlahmte rasch. Klugerweise zog sich der Hochkönig zumindest vorläufig zurück. Das reiche Ackerland, das Vieh und die großen Ernteerträge von Leinster lagen nun in Strongbows Hand.

Peter FitzDavid erschien die Zukunft in prächtigem Licht. Schon in derselben Nacht hatte ihn Strongbow mit einem Säckchen voll Gold belohnt. Kein Zweifel, weitere Belohnungen würden folgen. Aber er war kein öffentlicher Held, sondern nur ein geheimer Späher. Strongbows kühner Ausbruch und die Demütigung des beim Baden überraschten Hochkönigs wurden überall kundgetan und fesselten die Aufmerksamkeit der Chronisten.

Erst als am nächsten Tag die Gerüchte über Peters Anteil am Sieg der Engländer zu Fionnuala drangen, ahnte sie, was geschehen war. Als sie ihre Tränen getrocknet hatte, begriff sie, dass sie niemandem, nicht einmal Una, von Peters niederträchtigem Verhalten erzählen konnte, da ja auch sie darin verwickelt war. Mit erschreckender Kälte wurde ihr bewusst, dass er die Macht hatte, ihr enorm zu schaden, sollte er je enthüllen, was sie getan hatte.

Zwei Tage später begegnete sie ihm auf dem Marktplatz. Lächelnd trat er auf sie zu, doch sie sah in seinen Augen die Verlegenheit. Fionnuala wartete, bis er vor ihr stand, riss all die Würde zusammen, die sie aufbringen konnte, und sagte ruhig und kühl: »Ich will dich nie wieder sehen.«

Es sah so aus, als wollte er etwas entgegnen, doch sie kehrte ihm den Rücken zu und ging davon. Peter war klug genug, ihr nicht zu folgen.

* * *

Einen Monat nach der Niederlage des Hochkönigs ging Peter zufällig am Königshof vorbei, als er Strongbow herauskommen sah. Er verbeugte sich vor dem großen Mann und lächelte, doch der Earl of Pembroke schien ihn nicht zu sehen. Er wirkte beunruhigt, nahezu verstört. Peter fragte sich, was wohl der Grund dafür sein könnte. Am nächsten Tag vernahm er, Strongbow sei abgereist. Er habe in der Nacht ein Schiff genommen. Wo er denn hingereist sei, fragte Peter einen der Befehlshaber, der ihn sonderbar ansah. »Er sucht König Heinrich auf, ehe es zu spät ist«, erwiderte der Mann. »Strongbow steckt in Schwierigkeiten.«

Eine Zeit lang hatte Heinrich II. Strongbows Vordringen in Irland gelassen beobachtet. Aber nun besaß der Earl of Pembroke plötzlich ein Königreich in Leinster und hatte offenbar die Möglichkeit, die gesamte Insel zu erobern. Das war eine drohende Gefahr und eine gute Gelegenheit zugleich.

»Ich habe Strongbow nicht die Erlaubnis erteilt, König zu werden«, ließ er verlauten. Er hatte bereits genügend Schwierigkeiten mit einem Untergebenen gehabt, mit Thomas Becket, den er zum Erzbischof von Canterbury ernannt hatte. »Er ist mein Vasall. Gehört Irland ihm, gehört es mir«, entschied er. Und schon bald erreichte Strongbow die Nachricht: »König Heinrich ist nicht erfreut. Er kommt selbst nach Irland.«

* * *

Nach Ende der Belagerung erhielt Una MacGowan eine Nachricht von ihrem Vater, die sie traurig stimmte. Der unaufhörliche Gram über die verlorene Kassette hatte offenbar die Gesundheit des Silberschmiedes angegriffen; und sie wusste, dass er nicht sonderlich robust war. Da sie sich selbst die Schuld an seiner Not gab, kannte ihr Kummer keine Grenzen. In seinem Brief bat er sie erneut, in Dublin auszuharren. Sie erwog, sich seinem Wunsch zu widersetzen und zu ihm nach Rouen zu reisen, doch der Palmer riet ihr ab. Also schrieb sie ihm, je nachdem wie sich die Lage entwickelte, bestünde vielleicht die Möglichkeit, dass er in einigen Monaten heimkehren und mit ihrer und des Palmers Hilfe sicherlich noch einmal von vorne beginnen könne. So lange werde sie weiter im Hospiz arbeiten. Ein kleiner Trost waren für sie die Veränderungen, die sie an Fionnuala beobachtete. Kein Zweifel, dachte sie, der Besuch des Priesters hat ihr gut getan. In den Tagen darauf hatte Fionnuala so nachdenklich wie nie zuvor gewirkt. Sie schien zu einer neuen Ruhe und Ernsthaftigkeit gefunden zu haben.

Sie hatte von Fionnuala erfahren, dass die beiden O’Byrnes ihrem Vater erneut einen Besuch abstatteten. Eines Morgens ließen sie sich vom Palmer durch das Siechenhaus führen. Brendan zollte er großen Respekt, seinem Cousin Ruairi etwas weniger. Da es am Ende ihres Besuchs für Fionnuala Zeit war, nach Hause zu gehen, wollten die beiden O’Byrnes sie begleiten. Fionnuala wandte sich zum Palmer und fragte, ob Una nicht einen Moment entbehrlich sei und mit ihnen gehen könne. »Selbstverständlich«, rief der freundliche Mann. Und so machten sie sich zu viert auf den Weg. Da es ein schöner Tag war, beschlossen sie, die Slige Mhor entlangzugehen.

Fionnuala benahm sich wundervoll. Sie war sittsam, ernst, hielt den Kopf gesenkt und schaute ab und zu auf, um Brendan nett anzulächeln. Una war stolz auf sie. Brendan sprach ruhig und wohlgesetzt. Er überlegte, bevor er eine Meinung äußerte, und stellte aufmerksame Fragen zum Hospiz. Wäre er nicht eine wundervolle Partie, wenn Fionnuala ihn zum Ehemann bekäme?, dachte sie.

Sein Cousin Ruairi war größer als Brendan. Er hatte hellbraunes, kurz gestutztes Haar. Mit seinen Bartstoppeln sah er aus wie ein junger Krieger. Er schien nicht so gesetzt und ernsthaft zu sein wie Brendan; während sie um das Hospiz spazierten, stellte er keine Fragen, sondern beschränkte sich darauf, ihnen zuzuhören und sie mit einem verhaltenen Lächeln zu beobachten, so dass man nach einer Weile neugierig wurde, was er wohl dachte.

Anfangs gingen sie alle nebeneinander die Straße entlang und plauderten. Dann teilten sie sich in zwei Paare, Brendan und Fionnuala liefen vorneweg, Ruairi und Una hinterher.

Eine Weile gingen Una und Ruairi stumm nebeneinander, aber als sie ihm einige Fragen stellte, sprudelte es nur so aus ihm heraus. Er war schon viel in der Welt herumgekommen. Er beschrieb ihr die Küsten von Connacht und die vorgelagerten Inseln, berichtete von seinen Reisen mit den Händlern »aus der Zeit, als ich unten in Cork war«. Er war in London und in Bristol gewesen und auch in Frankreich. Sie fragte ihn gespannt, ob er schon einmal in Rouen gewesen sei. Nein, aber er erzählte ihr eine lustige Geschichte über einen dortigen Händler, der in ein zwielichtiges Geschäft verwickelt gewesen war.

»Reist dein Cousin Brendan auch so viel?«, erkundigte sie sich.

»Brendan?« Sein Gesicht nahm plötzlich einen Ausdruck an, den sie nicht deuten konnte. »Er bleibt lieber zu Hause und kümmert sich um seine Angelegenheiten.«

»Und du? Kümmerst du dich nicht um deine Angelegenheiten zu Hause?«

»Doch.« Er starrte vor sich hin, als dächte er gerade an etwas anderes. »Ich muss bald noch eine Reise unternehmen. Und zwar nach Chester.«

Una hatte das Gefühl, dass diesem jungen Mann mit der ruhelosen Seele trotz all des Wunderbaren, das ihm auf seinen Reisen begegnete, im Leben etwas fehlte.

»Du solltest an einem warmen Feuer in deinem eigenen Heim sitzen«, sagte sie. »Zumindest hin und wieder.«

»Da hast du Recht«, entgegnete er. »Vielleicht mache ich es, wenn ich zurückkomme.«

Obwohl sie ihn kaum kannte, fühlte sie sich neben ihm sehr wohl, und die Zeit verging ihr wie im Fluge. Als sie sich verabschiedeten, wünschte sie sich, sie würden sich eines Tages wieder sehen.

Am siebzehnten Oktober des Jahres 1171 traf König Heinrich II. von England in Irland ein. Er war der erste englische Monarch, der die Insel besuchte. Er ging mit einem großen Heer in der südlichen Hafenstadt Waterford an Land. Er hatte keineswegs die Absicht, Irland, das ihn nur wenig interessierte, zu erobern, aber er wollte die Macht seines Vasallen Strongbow brechen und ihn zum Gehorsam zwingen. In gewissem Maße hatte er sein Ziel bereits erreicht, ehe er überhaupt in Irland ankam, denn ein beunruhigter Strongbow hatte ihn schon in England aufgesucht und ihm all seine irischen Reichtümer übertragen. Dennoch gedachte er, sich das Land anzusehen und dafür zu sorgen, dass Strongbow sich ihm mit gebotener Demut unterwarf.

Das Heer im Gefolge von König Heinrich war in der Tat gewaltig: fünfhundert Ritter und fast viertausend Bogenschützen. Mit ihnen, ganz zu schweigen von Strongbows bereits großen Streitkräften, hätte der englische König, wenn er es denn gewollt hätte, die ganze Insel erstürmen und jeglichen Widerstand im Keime ersticken können. Heinrich wusste dies nur zu gut.

* * *

Fünfundzwanzig Tage nach seiner Ankunft in Waterford hatte er bereits alle Angelegenheiten in Südleinster geregelt und war in Dublin eingetroffen. Nun hielt er am Rande des alten Hoggen Green, umgeben von einer vieltausendköpfigen Armee, in vollkommener Sicherheit Hof. Der Hochkönig, die bedeutenden Männer aus Connacht sowie aus dem entlegenen Westen und die Stammesführer der großen irischen Clans aus allen anderen Provinzen suchten ihn bereitwillig oder widerwillig auf.

Heinrich hatte verkündet, er persönlich werde die Macht in Dublin und den dazugehörigen Gebieten, in Wexford und Waterford übernehmen. Strongbow erhalte die Erlaubnis, das übrige Leinster als sein Lehnsmann zu halten; und ein anderer großer englischer Magnat, Lord de Lacy, den Heinrich als Getreuen mitgebracht hatte, solle als sein persönlicher Statthalter oder Vizekönig über Dublin befehlen. So würde jedes irische Oberhaupt, das zum Osten der Insel blickte, eine scheinbar traditionelle irische Ordnung erkennen: einen König von Leinster, einen König von Dublin und einige teils fremd beherrschte Hafenstädte. Doch dahinter stünde ein rivalisierender Hochkönig – bei weitem mächtiger als Brian Boru –, ein Hochkönig auf der anderen Seite des Meeres.

Dublin aber, so hieß es, sei den Kaufleuten von Bristol zugesprochen worden. Niemand wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Die Bristoler sollten in Dublin dieselben Handelsrechte wie bei sich zu Hause haben. Die mächtige Stadt Bristol besaß alte Privilegien, hatte riesige Märkte und war eines der größten Tore zum englischen Markt. Ihre Kaufleute waren reich. Bedeutete dies, dass der Hafen von Dublin einen ähnlichen Status genießen würde? Es hieß, der König wolle auch, dass die Händler und Handwerker, die Dublin verlassen hatten, wieder in die Stadt zurückkehrten. Außerdem rief er die Bischöfe von Irland zu einer Synode zusammen. Erzbischof O’Toole aus Dublin wollte den jungen Gilpatrick dort mit hinnehmen.

* * *

Kurz nach König Heinrichs II. Ankunft tauchte Brendans Cousin wieder in der Stadt auf. Una wusste nicht, ob er nur einige Tage bleiben würde, bis er wieder abreiste, oder ob er andere Pläne hatte.

»Ich habe ihn unten am Quai gesehen«, erzählte ihr eines Morgens die Frau des Palmer.

»Was hat er da gemacht?«, fragte Una.

»Da hat er mit englischen Soldaten Würfel gespielt, als kennte er sie schon ein Leben lang«, entgegnete sie.

Una traf ihn am nächsten Tag im Hof ihres Elternhauses. Er saß auf dem Stein und lehnte mit dem Rücken am Zaun. Er starrte gedankenversunken zu Boden, und an seinem hängenden Kopf und am Alegeruch merkte sie, dass er betrunken war. Er schien sie nicht zu erkennen. Sie war nicht schockiert. Die meisten jungen Männer betranken sich zuweilen. Was würde geschehen, wenn er hier in der Dunkelheit bliebe und ihn niemand sähe oder in der Nacht niemand auf ihn aufmerksam würde? Er würde erfrieren. Sie blieb stehen und rief seinen Namen.

Er blinzelte und sah auf. Sie nahm an, er könne in der Dunkelheit ihr Gesicht nicht erkennen. Seine Augen waren ausdruckslos.

»Ich bin es, Una. Vom Hospiz. Erinnerst du dich nicht an mich?«

»Ach.« War es der Anflug eines Lächelns? »Una.«

Dann kippte er zur Seite und blieb vollkommen reglos liegen.

Sie stand einige Minuten vor ihm in der Hoffnung, er würde wieder zur Besinnung kommen. Aber nein. Dann kam ein Mann, der eine Handkarre von den Fish Shambles hinter sich herzog, das Sträßchen entlang. Es war Zeit zu handeln. »Ich bin vom Hospiz«, sagte sie zu ihm. »Das ist einer unserer Bewohner. Könntet Ihr mir helfen, ihn nach Hause zu bringen?«

»Den haben wir in null Komma nix zu Hause. Mach die Augen auf, mein Schatz«, brüllte er in Ruairis Ohr. Doch als dies keine Wirkung zeigte, bugsierte er ihn, nicht ohne einige heftige Stöße, auf die Karre und setzte sich hinter Una, die ihm den Weg zeigte, in Bewegung.

* * *

Pater Gilpatrick war recht überrascht, als Ende November Brendan O’Byrne vor seiner Tür stand. Einen Augenblick fragte er sich, ob Brendan aus bestimmtem Grund mit ihm über seine Schwester sprechen wolle, und überlegte in aller Eile, was er zu ihren Gunsten sagen könne, ohne dass er von der Wahrheit abwich.

Doch offenbar wollte Brendan über Wichtigeres reden. Brendan erklärte, er bräuchte einen Rat, und er sei zu ihm gekommen, da er seine Verschwiegenheit schätze und seine Kenntnisse über England, da er ja dort eine Zeit lang gelebt habe.

»Ihr werdet wissen«, sagte er, »dass die O’Byrnes wie die O’Tooles mit ihren Landbesitzungen südlich und westlich von Dublin immer sehr aufmerksam die Ereignisse in Dublin und Leinster verfolgt haben. Nun stellt es sich mir so da, dass wir in beiden Provinzen englische Könige haben werden. Wir O’Byrnes fragen uns, was wir tun sollen.«

Gilpatrick mochte Brendan O’Byrne. Seine Ruhe, seine Genauigkeit in allem, was er sagte, gefielen ihm. Soweit Gilpatrick wusste, war das Oberhaupt der O’Byrnes noch nicht hinunter zu König Heinrich in den Weidengeflecht–Palast gegangen. Er schilderte darum Brendan ganz genau das Spiel, das König Heinrich seiner Meinung nach spielte: Er verleite die irischen Könige dazu, ihm Anerkennung zu zollen, indem er ihnen mit Strongbow drohe. »Und beachtet die Gerissenheit dieses Mannes«, fügte er an, »denn Heinrich hat als Gegengewicht nicht nur de Lacy in Dublin, sondern auch Strongbows Landbesitzungen in England und der Normandie, die er ihm, falls er sich nicht fügt, wegnehmen kann.«

O’Byrne hörte aufmerksam zu und sagte dann: »Ich frage mich, Vater Gilpatrick, auf was unsere irischen Stammesoberhäupter eigentlich schwören. Wenn ein irischer König in das Haus eines größeren Königs kommt, bedeutet das Schutz und Tribut. Doch auf der anderen Seite des Meeres bedeutet es vielleicht etwas ganz anderes. Könnt Ihr mir sagen, was es ist?«

»Irland ist seit Menschengedenken in Stammesgebiete aufgeteilt. Wenn ein Stammesanführer einen Eid schwört, tut er es für sich, seinen herrschenden Clan und seinen Stamm. Doch in England sind die Stämme bereits vor langer Zeit verschwunden. Die Struktur des Landes besteht aus Dörfern mit kleinen Bauern und Leibeigenen, die fast Sklaven sind. Und wenn dort ein Vasall Anerkennung zollt, so bietet er nicht Treue gegen Schutz, sondern er bestätigt sein Recht, dieses Land in Besitz zu nehmen, und die Zahlungen hängen von seinem Wert ab.«

»Solche Vereinbarungen sind in Irland nicht unbekannt«, bemerkte Brendan.

»Und das ist noch nicht alles. Stirbt ein Vasall, muss sein Erbe dem König eine beträchtliche Summe zahlen, damit er das Erbe antreten kann. Und besonders in England herrscht ein noch strengeres System. Bereitet jemand dem König Schwierigkeiten, so bestraft dieser ihn nicht oder fordert Tribut, sondern er nimmt ihm das Land weg und gibt es einem anderen. Das sind Machtstrukturen, die weit darüber hinausgehen, wovon je ein irischer Hochkönig geträumt hat.«

»Diese Engländer sind strenge Leute.«

»Die Normannen, um genau zu sein. Denn einige von ihnen behandeln die Angelsachsen wie Hunde. Ein Ire ist innerhalb seines Stammes ein freier Mann. Der sächsische Bauer ist es nicht. Ich habe den Eindruck«, sagte Gilpatrick, »dass diese Normannen sich mehr um ihren Besitz kümmern als um die Menschen. Hier in Irland streiten wir uns, wir kämpfen, manchmal töten wir auch, aber außer wenn wir zornig sind, herrscht unter uns Freundlichkeit und Rücksichtnahme. Vielleicht ist alles eine Frage der Eroberung. Schließlich sind auch wir froh, englische Sklaven zu besitzen.«

»Glaubt Ihr, dass auch nur einer der irischen Fürsten die Vorstellung hat, er ginge, wenn er Heinrichs Haus beitritt, diese englischen Verbindlichkeiten ein?«, fragte Brendan.

»Nein, vermutlich nicht.«

»Ob Heinrich ihnen das gesagt hat?«

»Bestimmt nicht.«

»Dann verstehe ich, glaube ich«, sagte Brendan tief in Gedanken, »wie es weitergehen wird. Zu einem späteren Datum werden die Engländer – nicht Heinrich, der gerissen ist, sondern die englischen Lords – ernsthaft glauben, die Iren hätten auf die eine Sache geschworen, und die Iren werden glauben, sie hätten auf etwas anderes geschworen, und beide Seiten werden sich misstrauen.« Er seufzte. »Diesen Plantagenet–König hat uns der Teufel geschickt.«

»Das sagt man über seine ganze Familie. Was werdet Ihr tun?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich danke Euch, Vater, für Euren Rat. Übrigens«, sagte er mit einem Lächeln, »hatte ich keine Gelegenheit, Eure Familie und Eure Schwester zu besuchen. Richtet ihnen Grüße von mir aus. Insbesondere natürlich Fionnuala.«

»Das tue ich«, sagte Gilpatrick zu Brendan, der sich verabschiedete. Und er dachte, es wäre wundervoll für diese Familie, wenn Ihr Fionnuala heiraten würdet. Aber Ihr seid viel zu gut für sie, Brendan O’Byrne.

Rasch erkannte Una das Gute in Ruairi O’Byrne. Nach der ersten Nacht ruhigen Schlafs im Hospiz erschien er am Morgen in recht guter Verfassung, und sie hatte angenommen, er würde sich nun verabschieden. Doch am Mittag war er noch immer da. Er war wohl ganz zufrieden damit, mit den Bewohnern, die seine Gesellschaft offenbar schätzten, zu reden. Fionnuala war nicht da, und weil er sah, dass Una Unterstützung brauchte, sprang er ihr öfter zur Seite und half ihr bei ihren Aufgaben. Die Frau des Palmers empfand ihn als einen sehr angenehmen jungen Mann. Der Palmer selbst hingegen murrte, wenn auch nicht unfreundlich, ein junger Mann seines Alters sollte Besseres zu tun haben, wofür ihn seine Frau rügte.

Ruairi schien es nicht zu drängen, an diesem Tag aufzubrechen, sondern er äußerte den Wunsch, im Männerschlafsaal zu übernachten. Am nächsten Morgen erzählte er Una, er müsse in Dublin ein Pferd kaufen, damit er zu den O’Byrnes zurückkehren könne. Fionnuala musste jeden Augenblick kommen, doch er brach auf, ehe sie eintraf, und kam erst zurück, nachdem sie bereits wieder gegangen war. Bei seiner Rückkehr sah er ein wenig blass aus. Der Händler, mit dem er ins Geschäft kommen wollte, hatte versucht, ihm einen kranken Gaul zu verkaufen, doch er hatte gerade noch rechtzeitig die Mängel des Pferds erkannt. Er schien verärgert, nicht abreisen zu können, und verbrachte eine weitere Nacht im Hospiz.

Am nächsten Morgen wirkte Ruairi niedergeschlagen. Er saß im Hof und schaute trübsinnig vor sich hin. Wann immer Una ein bisschen Zeit von ihren Pflichten abzweigen konnte, setzte sie sich zu ihm. Als sie ihn sanft fragte, warum er so traurig sei, bekannte er, eine schwierige Entscheidung treffen zu müssen. »Ich sollte eigentlich zurückkehren.« Er deutete in die südliche Richtung zum Liffeytal und den Wicklow–Bergen, so dass sie glaubte, er meinte zurück zu den O’Byrnes. »Aber ich habe andere Pläne.«

»Willst du wieder auf Reisen gehen?«, fragte Una.

Er zögerte und sagte dann ruhig: »Vielleicht auf eine größere Fahrt.«

»Wo willst du hin?«

»Ich denke an eine Pilgerreise«, antwortete er. »Vielleicht nach Compostela oder ins Heilige Land.«

»Bei allen Heiligen!«, rief sie. »Das wäre ein langer und gefahrvoller Fußmarsch.« Sie schaute ihn prüfend an, um zu sehen, ob er es ernst meinte. »Willst du wirklich wie der Palmer bis nach Jerusalem gehen?«

»Es wäre besser«, murmelte er, »als zurückzugehen.« Und wieder zeigte er in die Richtung, wo seine Familie lebte.

Sie empfand unwillkürlich Mitgefühl mit ihm und fragte sich, warum er nur so ungern bei seiner Familie war.

»Bleib doch noch ein paar Tage«, riet sie ihm. »Hier kannst du ausruhen. Bete, und deine Gebete werden bestimmt erhört.« Insgeheim hatte sie schon beschlossen, selbst für ihn zu beten.

So blieb er noch einen Tag. Als sie dem Palmer von den Problemen und Absichten des armen Ruairi erzählte, warf er ihr nur einen gequälten Blick zu und bemerkte: »Mit so einem jungen Mann kannst du viel Zeit vergeuden.«

Sie war erstaunt, dass ein guter Mann, der selbst gepilgert war, so etwas sagte, und sie konnte nur daraus schließen, dass er sie nicht verstanden hatte. Sie nahm ein wenig Anstoß an seinem Ton, der in ihren Ohren herablassend klang. Der Palmer, der ihren Ärger spürte, ergänzte leise: »Er erinnert mich an einen Jungen, den ich einmal kannte.«

»Und vielleicht«, sagte sie gereizt, »habt Ihr auch diesen Jungen nicht so gut gekannt.« Nie zuvor hatte sie mit dem Palmer in einem solchen Ton gesprochen, und sie fürchtete, zu weit gegangen zu sein. Doch zu ihrem Erstaunen wirkte er nicht verärgert.

»Ja, vielleicht«, sagte er mit plötzlicher Traurigkeit, die sie sich nicht erklären konnte.

Am nächsten Morgen kam Fionnuala wieder. Höflich begrüßte sie Ruairi, doch an einem Gespräch mit ihm schien sie nicht sonderlich interessiert zu sein. Als Una sie darauf ansprach, zog Fionnuala ein Gesicht und sagte: »Ich bin an Brendan interessiert, Una.« Sie ließen es auf sich beruhen.

Während am Nachmittag Fionnuala mit einem der Insassen sprach, traf Una zufällig Ruairi, der trübsinnig im Hof saß. Nach ihrem letzten Gespräch war ihr der Gedanke gekommen, dass es etwas bedeuten musste, Mitglied einer fürstlichen Familie wie den O’Byrnes zu sein, insbesondere wenn man sich mit dem Ruf eines Mannes wie Brendan messen musste. Eine Pilgerreise ins Heilige Land könnte Ruairi sicherlich helfen, sein Ansehen zu steigern.

»Sie quälen mich! Sie verachten mich!«, brach es mit einem Mal aus ihm heraus. Dann verfiel er wieder in Trübsinn.

» ›Ruairi ist ein armer Kleiner!‹ Das sagen sie über mich. ›Brendan ist der Mann.‹ Und es stimmt, er ist es. Was habe ich denn schon in meinem Leben zuwege gebracht?«

»Du musst Geduld haben, Ruairi«, sagte sie eindringlich. »Gott hat etwas mit dir vor, so wie er mit uns allen etwas vorhat. Würdest du beten und zuhören, Ruairi, würdest du entdecken, was es ist. Ich bin sicher, du hast das Zeug dazu, große Dinge zu vollbringen.«

Ohne nachzudenken, was sie tat, hielt sie seine Hand einen Moment lang in ihrer. Sie hörte Fionnuala nach ihr rufen und musste gehen. Und dann beging sie einen Fehler, der sie später noch oft reuen sollte: Sie erzählte Fionnuala von den Plänen des jungen Mannes. Als diese am nächsten Morgen Ruairi traf, spottete sie: »So, nach Jerusalem willst du also gehen. Unterwegs gibt es sicher viel zu trinken, was?« Dann lachte Fionnuala schallend, und Ruairi entgegnete nichts, sondern warf nur Una einen vorwurfsvollen Blick zu, der ihr beinahe das Herz brach. Am nächsten Morgen war er verschwunden.

Sie sah Ruairi erst im Dezember wieder, einen Tag nachdem Vater Gilpatrick nach Cashel zur großen Synode abgereist war. Die Frau des Palmers hatte ihn auf dem Markt getroffen und ihn mit zum Hospiz gebracht. Una wollte ihn nach seinen Pilgerplänen fragen, wagte es jedoch nicht. Fionnuala übernahm dann nach einem Moment peinlichen Schweigens das Gespräch.

»Hast du deinen Cousin Brendan gesehen?«, fragte sie. »Er war in den letzten Wochen nicht hier.«

»Ja.« Una meinte zu spüren, dass ihm leicht unbehaglich zumute wurde.

»Geht es ihm denn gut?«, hakte Fionnuala nach.

»Oh, doch, natürlich. Brendan geht es immer gut.«

»Wird er jetzt heiraten?«, setzte Fionnuala kess nach. Und spätestens jetzt war es unverkennbar, dass Ruairi peinlich berührt war.

»Es ist im Gespräch, glaube ich. Eine der O’Tooles. Aber ich kann nicht sagen, ob es beschlossene Sache ist. Zweifellos gehöre ich zu den Letzten, die es erfahren«, setzte er gequält hinzu.

Nein, dachte Una, Fionnuala wird die Letzte sein, die es erfährt; und sie sah ihre Freundin voll Mitgefühl an. Doch Fionnuala hatte ein tapferes Gesicht aufgesetzt.

»Natürlich, er ist ein guter Mann«, sagte sie. »Seine Frau mag vielleicht nicht oft Grund haben zu lachen, aber wenn sie ein ernstes Wesen hat, wird sie sicher glücklich werden.« Sie lächelte strahlend. »Gehst du zurück nach Dublin, Ruairi?«

»Da war ich schon.«

»Dann kannst du mit mir gehen, da ich mich jetzt auf den Heimweg mache.«

Fionnuala erwähnte Brendan nie wieder. Und Una sah Ruairi nie mehr. Sie hörte ein, zwei Mal, dass er in Dublin gewesen sei, und fragte Fionnuala, ob sie ihn gesehen oder Neuigkeiten über ihn habe; doch Fionnuala verneinte.

* * *

Der Seemann kam an einem grauen Märzmorgen. Feuchte Wolken trieben über den Liffey. Der Palmer und seine Frau waren zum Lager des Königs gegangen und hatten das Hospiz bis zu ihrer Rückkehr Fionnualas und Unas Obhut anvertraut. Regentropfen hingen im Haar des Seemanns. »Ich habe eine Nachricht von Eurer Mutter«, teilte er Una mit. »Euer Vater war sehr krank. Aber wenn er wieder laufen kann, will er nach Dublin zurückkommen, denn er möchte, ehe er stirbt, Irland wieder sehen.«

Una schossen die Tränen in die Augen. Sie hatte sich so sehr danach gesehnt, ihre Familie wieder zu sehen, aber nicht unter diesen Umständen. In ihrem Kopf wimmelte es auch von praktischen Fragen. Wie würden sie leben? Sollte ihr Vater zu krank sein, um arbeiten zu können, so waren ihre Brüder noch zu jung, um bereits erfolgreiche Handwerker zu sein. Sie und ihre Mutter müssten die beiden so gut es ginge ernähren. Und wo würden sie wohnen? Könnten sie doch nur, dachte sie, ihr altes Haus zurückbekommen. Wenn irgendetwas ihrem Vater helfen könnte, wieder gesund zu werden, dachte sie, wäre es das. Sie überlegte, ob vielleicht der Palmer etwas für sie tun könnte, und beschloss, ihn sofort nach seiner Rückkehr um Rat zu fragen.

Unterdessen besprach sie die Neuigkeiten mit Fionnuala. Ihre Freundin war, seit sie im Winter die Aussicht auf eine Heirat mit Brendan aufgeben musste, in gedämpfter Stimmung. Dennoch versuchte sie Una jetzt zu trösten, nahm sie in die Arme und meinte, alles würde gut.

Als der Palmer und seine Frau kurz nach Mittag heimkamen, war er nicht in der Stimmung zu reden; er lächelte traurig und ging mit seiner Frau an Una vorbei in seine Wohnräume. Zwei Stunden vergingen, und keiner von beiden kam heraus. Die Mädchen konnten sich nur fragen, was da nicht stimmte.

Fionnuala war im Hof, als sie jemanden durch das Tor treten sah. Der Himmel hatte etwas aufgeklart, doch der Märzwind entlockte dem Strohdach plötzlich ein Zischen und schlug das Tor zu, als die Gestalt eintrat. Just in diesem Augenblick erschien Una aus dem Frauenschlafsaal, und Fionnuala wusste, dass ihr Blick auf ihnen beiden ruhte. Ihr wurde klar, dass Una womöglich gar nicht wusste, wer dieser Mann war. Fionnuala musterte ihn.

Peter FitzDavid sah sie an. Sein Gesicht war ernst. Wenn er sich unter ihrem eisigen Blick unbehaglich fühlte, verbarg er es sorgsam.

»Dein Bruder Gilpatrick bat mich, dich abzuholen«, sagte er ruhig. »Ich bringe dich nach Hause. Ich habe ihn im Lager des Königs getroffen«, fügte er an, um seine Anwesenheit zu erklären.

Fionnuala verspürte eine stechende Angst.

»Warum?«, fragte sie.

»Habt ihr es denn nicht gehört? Hat es euch der Palmer nicht erzählt?« Er schaute überrascht, dann nickte er bedächtig. »Es geht um König Heinrich«, erklärte er. »Er hat seine Aufgaben in Irland erledigt und wird in Kürze abreisen. Nur die Angelegenheit mit Dublin muss noch geregelt werden, und das tut er gerade. Ich fürchte, Fionnuala«, er hielt einen Moment inne, »es ist für deinen Vater nicht gut ausgegangen, obwohl er mit besonderer Rücksichtnahme behandelt wurde. Er behält den südlichen Teil seiner Ländereien, unten, wo dein Bruder lebt. Natürlich wird er sie als Vasall des Königs innehaben. Aber der gesamte nördliche Teil seines Landbesitzes bei Dublin wurde einem Mann namens Baggot übereignet. Dein Vater ist sehr aufgebracht.« Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Ich fürchte, diese Übereignungen und Rückübereignungen sind unter solchen Umständen recht normal.«

Die beiden Mädchen starrten ihn wie betäubt an. Una kam als Erste wieder zu Kräften.

»Ist dies auch dem Palmer geschehen?«

»Ihn hat es noch viel schlimmer getroffen. Der König hat ihm seine gesamten Ländereien in Fingal weggenommen und sie seinen eigenen Rittern gegeben. Dem Palmer hat er nur sein Land in der Nähe von Dublin gelassen, was gerade eben ausreicht, ihn und das Hospiz zu ernähren. Dem König ist natürlich bewusst, dass der Palmer keine Erben hat. Nur für das Hospiz muss er wirklich sorgen.«

»Und was fällt für dich dabei ab?«, fragte Fionnuala kalt.

»Für mich?« Peter zuckte die Achseln. »Ich bekomme gar nichts, Fionnuala. Strongbow bedenkt zuerst einmal seine eigene Verwandtschaft. Und als dann König Heinrich ins Land kam, wurde Strongbows Macht stark beschnitten. König Heinrich kennt mich kaum. Ich habe in Irland nichts bekommen. Wahrscheinlich reise ich mit König Heinrich ab. Strongbow hat ihn davon überzeugt, mich mitzunehmen. Vielleicht kann ich mein Glück in einem anderen Land machen.«

»Dann sehen wir dich nicht mehr wieder, Waliser«, sagte Fionnuala freundlicher.

»Nein.«

»Nun, ich hoffe, dir hat es hier gefallen.«

»Ja, sehr sogar.«

Sie schauten sich einen Augenblick stumm an. Dann seufzte Fionnuala. »Es besteht kein Grund, dass du mich nach Hause begleitest, Waliser. Ich habe hier noch einiges zu tun, und dann werde ich mich allein auf den Weg machen.«

»Ich wüsste zu gern, was mit meinem Elternhaus geschehen ist«, raunte Una ihrer Freundin zu.

»Waliser«, hob Fionnuala an. »Dies ist Una MacGowan. Ihrer Familie gehört das Haus, in dem du Quartier genommen hast. Sie möchte gerne wissen, was aus dem Haus wird.«

»Zufällig weiß ich es genau«, erwiderte Peter. »Etliche Bristoler Kaufleute kommen herüber, und dieses Haus ist wie viele andere einem von ihnen übereignet worden. Ich habe den Mann sogar kennen gelernt. Sein Name ist Doyle.«

Una hatte angenommen, dass Fionnuala, kurz nachdem Peter FitzDavid sich verabschiedet hatte, ebenfalls gehen würde. Zu ihrer großen Überraschung sah sie eine halbe Stunde später, dass Fionnuala noch immer da war. Sie fand sie in dem Zimmer hinter dem Männerschlafsaal, wo sie damals den Priester getroffen hatte. Sie kniete auf dem Boden und weinte still vor sich hin. Una hockte sich neben sie, um sie zu trösten.

»Es hätte schlimmer kommen können, Fionnuala. Deine Familie ist noch immer reicher als die meisten anderen. Ich bin sicher, dein Bruder wird eines Tages Bischof. Und es werden nicht weniger nette Männer um deine Hand anhalten.«

Doch all das schien nicht zu helfen. Noch immer zuckten Fionnualas Schultern. Sie wisperte: »Brendan ist gegangen. Mein Waliser ist gegangen. Alle.« Dies schien Una ein wenig abwegig zu sein; doch da sie sie trösten wollte, schlug sie vor: »Vielleicht solltest du diesen Priester noch einmal treffen.« Was allein dazu führte, dass die arme Fionnuala noch heftiger weinte. Schließlich hob sie den Kopf und sah mit tränenüberströmtem Gesicht ihre Freundin an.

»Du verstehst nicht, Una, du armes dummes Ding. Du verstehst überhaupt gar nichts. Ich bin schwanger.«

»Was bist du? In Gottes Namen, Fionnuala, wer war es?«

»Ruairi O’Byrne. Lieber Gott, hilf mir. Ruairi.«

* * *

Als Una den Kaufmann durch das Tor des Hospizes kommen und mit dem Palmer und seiner Frau hinten in der kleinen Halle verschwinden sah, brachen ihre Hoffnungen in sich zusammen. Groß, hart, dunkel, mit einem Furcht erregenden Blick aus dunklen Augen: ein Blick auf Doyle, und sie wusste, sie war verloren. So ein Mann tut niemandem einen Gefallen, dachte sie. So ein Mann nimmt sich, was er will, und stößt alles um, was sich ihm in den Weg stellt. Sie sah ihren Vater vor sich, dem nichts anderes übrig bliebe, als vor seiner eigenen Tür zu sterben, und ihre Mutter, die gezwungen wäre, auf der Straße zu betteln, zumindest bis der Palmer ihr Unterschlupf gewähren würde.

Was sollte sie also tun? Über diese Frage grübelte sie, während der Bristoler Kaufmann an jenem Abend mit dem Palmer und seiner Frau beim Essen saß. Der Fall schien hoffnungslos, aber sie konnte doch nicht einfach aufgeben. Bloß um Milde zu flehen wäre Zeitvergeudung; aber was könnte sie ihm anbieten? Umsonst für ihn als Dienerin zu arbeiten? Das wäre wohl kaum genug, um das Haus zurückzubekommen. Sich ihm als Sklavin zu verkaufen? Auch nicht besser.

Es gab nur eines, an das sie denken konnte. Ihren Körper. Was wenn sie seine Dienerin wäre und sich ihm dazu anböte? Sie vermutete, ein so herrischer Mann wie Doyle würde das mögen. Aber ob er sie überhaupt begehrenswert fände? Sie hatte keine Ahnung. Sie dachte an seine große, dunkle Gestalt und an sein hartes Gesicht, und ihr schauderte. Einem solchen Mann wie eine Hure ihren Körper anzubieten: könnte sie sich dazu überwinden? Einem Mädchen wie Fionnuala fiele es vielleicht nicht so schwer, dachte sie. Sie wünschte sich beinahe, auch sie wäre so. Aber sie war es nicht, und sie wusste, sie könnte nie so sein. Dann dachte sie wieder an ihr armes Väterchen, biss sich auf die Lippe und sagte sich: Ja, wenn es sein muss, für ihn tue ich es.

* * *

Ailred der Palmer erinnerte sich recht gut an Doyle, obwohl die Geschäfte, die sie vor sechs, sieben Jahren abgewickelt hatten, nicht besonders umfangreich gewesen waren. Er wusste von der Bedeutung des Mannes in Bristol, und es schmeichelte ihm, dass Doyle ihn in diesen Zeiten zu Rate zog.

»Seit ich dieses Hospiz gegründet habe«, berichtete er dem Kaufmann, »habe ich kaum noch im Hafen Handel getrieben. Daher bin ich nicht sicher, ob ich Euch sehr hilfreich sein kann.«

Als Doyle den feinen alten Nordmann und seine sanftmütige Frau ansah, empfand er Bedauern, dass der Mann so schlimme Zeiten durchmachen musste, und überlegte, ob der Palmer gegen ihn als Neuankömmling vielleicht einen Groll hegte. Doch er hatte schließlich seine eigene Aufgabe zu erfüllen, und er war nicht ein Mann, der von seinem Vorsatz abzubringen war. Aus diesem Grund löcherte er Ailred mit Fragen über die Stadt, welche Handwerker es gebe, was ge– und verkauft werde, welchen Händlern man trauen könne. Und wie er es erwartet hatte, wusste der Palmer eine Menge zu berichten. Mittlerweile hatten sie ihr Mahl beendet, und Obsttorte und verschiedene Käsesorten wurden aufgetragen. Der Bristoler Kaufmann konnte sich zurücklehnen, seinen Wein genießen, sich allgemeineren Themen zuwenden und auch Fragen beantworten, die Ailred ihm stellte.

Insbesondere wollte der Palmer etwas über die Stadt Bristol wissen – über ihre Ratsherren, ihre Handelsprivilegien, und welche Steuern sie dem König bezahlte. »Denn darauf, vermute ich, müssen wir uns nun auch in Dublin gefasst machen«, sagte er. Auf diese und andere Punkte konnte Doyle ihm umfassend Antwort geben.

»Werdet Ihr nach Dublin ziehen und hier leben?«, fragte Ailred der Palmer.

»Nicht im Augenblick«, entgegnete Doyle. »Ich habe einen jungen Partner, der sich hier vorläufig um meine Geschäfte kümmern wird. Er ist sehr tüchtig.« Was er nicht sagte, war, dass dieser junge Mann, den er mit nach Dublin gebracht hatte, bereits ein Verbrechen begangen hatte. Und dass dieser junge Mann vor sechs Jahren zu ihm als Halbwüchsiger, als Taugenichts gekommen war.

»Dann habt Ihr keine Familie in Dublin?«, wagte sich der Palmer vor.

»Wir stammen aus Waterford. Dort habe ich einige Verwandte«, antwortete Doyle. »Der Letzte meiner Familie, der in Dublin war, hat hier sein Leben gelassen. In der Schlacht von Clontarf. Ein Nordmann wie Ihr, aber eine Däne. Einer der alten Seewanderer.«

»Viele tapfere Männer sind in dieser Schlacht umgekommen«, stimmte Ailred zu. »Vielleicht habe ich von ihm gehört.«

»Ja, vielleicht. Um ehrlich zu sein«, gestand Doyle, »die Familie in Waterford wusste nie sehr viel über ihn, außer dass er ein hervorragender Kämpfer war. Er gehörte zu denen, die Brian Borus Lager angegriffen haben. Soviel ich weiß, soll er einen Schlag gegen den König persönlich geführt haben.«

Obgleich der dunkle Kaufmann aus Bristol ein harter Mann war, ließ er deutlich erkennen, dass er stolz auf diesen Vorfahren war.

»Und was ist mit ihm geschehen?«, fragte der Palmer.

»Wir haben es nie herausgefunden. Es heißt, er habe die Verfolgung eines Feinds aufgenommen und sei nie wieder gesehen worden. Von Brian Borus Wachen getötet, könnte ich mir denken.«

»Und wie hieß er?«

»Sigurd«, antwortete der Händler stolz. »Genau wie ich. Sigurd.«

»Ach«, sagte Ailred.

»Ihr habt von ihm gehört?«

»Ich muss nachdenken, aber es könnte sein.« Es musste dieser Sigurd sein, der zum Gehöft seines Widersachers gekommen und von Osgar, dem Mönch und Buchmacher, getötet worden war. Wer könnte heute noch etwas über ihn wissen, fragte er sich. Vielleicht nur noch er selbst und bestimmt Fionnualas Familie. Offenbar hatte Doyle keine Ahnung von dem üblen Ruf seines Vorfahren. Und hier war nun er, der Palmer, der sein ehrlich erworbenes Vermögen verloren hatte und der im Begriff war, diesen Abkömmling eines gemeinen Mörders um einen Gefallen zu bitten. Einen Augenblick war er versucht, diesen Mann, der nun Macht über ihn hatte, zu demütigen; doch dann musste er an die arme kleine Una denken, und seine Vernunft gewann die Oberhand.

»Ich glaube, ich habe gehört«, sagte er, ohne zu lügen, »dass er ein Teufelskerl war.«

»Das muss er gewesen sein«, entgegnete Doyle hoch zufrieden.

In der kurzen Gesprächspause, die sich nun ergab, schien es, als wollte der Bristoler Kaufmann ein anderes Thema anschneiden. Da jedoch Ailred merkte, dass das Gespräch über seinen Vorfahren ihm so viel Freude bereitet hatte, ergriff er die Gelegenheit, nun auf Unas delikates Thema zu sprechen zu kommen.

»Ich möchte Euch«, hob er an, »um eine kleine Gefälligkeit bitten.«

Er sah, dass Doyles Augen einen argwöhnischen Ausdruck annahmen, aber er ließ nicht nach und schilderte kurz den traurigen Fall von Una und ihrem Vater. »Ihr seht hier meine Lage«, erklärte Ailred. »Ich könnte der Familie vorübergehend Unterschlupf bieten, aber… Seht Ihr eine Möglichkeit, ihnen zu helfen?«

Doyle sah ihn unentwegt an. Es war schwer zu sagen, was in seinem Kopf vorging, doch Ailred meinte, in seinen dunklen Augen einen Hauch von Belustigung aufblitzen zu sehen. Aber wer um einen Gefallen bittet, kann sich keinen Groll erlauben, also wartete er geduldig auf Doyles Antwort.

»Ich wollte meinen jungen Partner dort einziehen lassen«, bemerkte Doyle. »Es dürfte ihm nicht gefallen, seine Unterkunft zu verlieren.« Und dann sagte er seelenruhig: »Ich bin es nicht gewohnt, Leuten, die ich nicht kenne und denen ich nichts schulde, einen Gefallen zu erweisen.«

Sollte dies eine Warnung an den Palmer gewesen sein, sich nicht weiter vorzuwagen, so nahm Ailred sie an und schwieg. Doch seine stets freundliche Frau hakte nach.

»Wir haben immer das Gefühl«, sagte sie sanft, »dass die Arbeit, die wir hier im Hospiz leisten, uns mehr Glück beschert, als wir es je aus unserem früheren großen Vermögen gezogen haben. Ich bin sicher«, sie lächelte ihn milde an, »dass Ihr in Eurem Leben Freundlichkeiten erwiesen und auch gewährt bekommen habt.«

Ailred hatte Doyle recht nervös angeschaut, während seine Frau diese Worte sprach, und er befürchtete, ihrem Gast könnten sie missfallen. Doch ob es ihre unschuldige Art war oder etwas anderes in ihren Worten, der Bristoler schien sie gut aufzunehmen.

»Es ist wahr«, bekannte er, »ein, zwei Mal in meinem Leben hat man mir Freundlichkeit entgegengebracht. Ob ich sie allerdings anderen erwiesen habe, ist eine andere Frage.« Er schien nicht weiter über dieses Thema sprechen zu wollen. Doch Ailreds Frau war nicht so leicht von einem einmal gefassten Beschluss abzubringen.

»Erzählt mir, was war die größte Freundlichkeit, die man Euch erwiesen hat«, drängte sie ihn.

Einen Moment schaute Doyle sie versonnen an, als dächte er über etwas anderes nach.

»Ich kann Euch von einer erzählen. Sie geschah mir vor vielen Jahren.« Er nickte bedächtig wie zu sich selbst. »Ich habe zwei Söhne. Mein ältester war immer strebsam, doch mein zweiter Sohn geriet in jungen Jahren in schlechte Gesellschaft. Ich war darüber nie beunruhigt, da ich dachte, er ist schließlich mein Sohn und hat ausreichend Verstand, um nichts Dummes anzustellen. Eines Tages verschwand er. Einfach so. Tage vergingen, und ich hatte keine Ahnung, wo er war. Dann stellte ich fest, dass er mir Geld gestohlen hatte, für Glücksspiele hauptsächlich und für andere Dinge. Eine große Summe. Natürlich konnte er sie nicht zurückzahlen. Er hatte solche Angst vor mir – zu Recht – und schämte sich so sehr, dass er weggelaufen war und Bristol verlassen hatte. Nicht einmal sein Bruder wusste, wo er war. Monate vergingen. Jahre.« Er hielt inne.

»Was habt Ihr getan?«, fragte Ailreds Frau.

»Eigentlich«, gestand Doyle, »habe ich gelogen. Ich wollte seinen Namen schützen, aber auch meinen Stolz. Daher ließ ich verlauten, er sei wegen Familienangelegenheiten nach Frankreich gereist. Da wir jedoch nie etwas von ihm hörten, dachte ich, er sei vielleicht tot.
Schließlich hörten wir doch etwas. Ein Londoner Kaufmann hatte ihn bei sich aufgenommen. Komisch, denn ich kannte den Mann nur flüchtig. Doch er hatte meinen Sohn in seinem Haus aufgenommen, verhielt sich ihm gegenüber wie ein Vater – ein recht strenger sogar – und half ihm, sich im Handel zu etablieren. Dann bewegte ihn dieser Kaufmann dazu, zu mir zu kommen und mich um Vergebung zu bitten. Das war eine Freundlichkeit, wenn Ihr wollt. So etwas kann man nicht wirklich vergelten. Man muss es einfach akzeptieren.«

»Und habt Ihr Eurem Sohn vergeben?«, fragte Ailreds Frau.

»Ja«, entgegnete der finstere Bristoler Kaufmann. »Um ehrlich zu sein, ich war nur dankbar, dass er am Leben war.«

»Ist er in Euer Haus zurückgekehrt?«

»Ich habe ihm zwei Bedingungen gestellt. Er solle mir erlauben, ihm seine restlichen Schulden zu erlassen. Ich glaube, die Einsicht in meine eigene Schuld ließ mich so handeln. Ich habe mir den Vorwurf gemacht, ein schlechter Vater gewesen zu sein und ihn aus dem Haus getrieben zu haben.«

»Und die zweite Bedingung?«

»Er solle eine Frau heiraten, die ich für ihn aussuchte. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Ich fand ihm ein gutes, zuverlässiges Mädchen. Sie sind auch glücklich miteinander geworden.« Abrupt stand er auf. »Es ist spät geworden. Ich danke Euch für die Gastfreundschaft.« Er drehte sich zu Ailreds Frau: »Eine Wendung zum Guten verdient vermutlich eine weitere. Ich denke über dieses Mädchen und seine Familie nach und lasse Euch am Morgen meine Entscheidung wissen.«

Als er gegangen war, blieben der Palmer und seine Frau allein in der Halle sitzen.

»Ich bin sicher, er wird ihr helfen«, sagte sie.

»Sage Una nichts davon«, entgegnete er. »Lass uns abwarten, was er tut.«

Danach saßen sie eine Weile schweigend da. Sie war es, die schließlich das Schweigen brach.

»Wie merkwürdig, dass sein Sohn dasselbe getan hat wie Harold. Er hat sogar wie wir eine Geschichte vorgeschoben. Außer, dass wir gesagt haben, Harold sei auf Pilgerreise gegangen.«

»Er hat seinen Sohn zurückbekommen«, sagte Ailred missmutig. »Vermutlich habe auch ich Harold aus dem Haus getrieben.«

»Du warst nie streng.«

»Nein, ich war zu nett.« Er deutete in Richtung der Schlafsäle. »Was kannst du tun, wenn du deinen Vater bestiehlst und er Ailred der Palmer ist?«

Sie wollte gerade sagen, dass vielleicht auch Harold noch am Leben sei, doch sie spürte, dass ihn dieses Thema zu sehr schmerzte.

»Lass uns hoffen«, sagte sie stattdessen, »dass Doyle etwas für Una unternimmt.«

* * *

Am nächsten Morgen stand Una auf der Straße vor dem Hospiz, als der Mann eintraf. Es war ein großer, gut aussehender, rothaariger Mann mit einem wettergegerbten Gesicht. Er fragte in freundlichem Ton nach dem Palmer, aber sie wusste nicht, dass Doyle, der Bristoler Kaufmann, ihn geschickt hatte.

Sie wollte ihm gerade den Weg zeigen, doch offenbar kannte er sich aus. Er ging durch das Tor, als Ailred aus der Hospiztür in den Hof trat. Sie folgte ihm und sah, wie Ailred ihn völlig verwirrt ansah, aber sie dachte nicht, dass er ihn kannte. Und der Palmer blickte höchst erstaunt, als der Besucher plötzlich auf die Knie fiel und ihn »Vater« nannte.

* * *

In der Mitte des nächsten Winters, neun Monate nachdem König Heinrich von England die Insel wieder verlassen hatte, rief O’Toole, der Erzbischof von Dublin, Vater Gilpatrick in seine privaten Gemächer und gab ihm drei Dokumente. Als der junge Priester sie fertig gelesen hatte, starrte er weiter auf die Pergamente, als hätte er einen Geist gesehen.

»Seid Ihr sicher, dass sie echt sind?«, fragte er.

»Daran besteht kein Zweifel«, antwortete der Erzbischof.

»Ich frage mich«, sagte Gilpatrick leise, »was mein Vater dazu sagen wird.«

Ein schwieriges Jahr lag hinter ihnen. Fionnualas Hochzeit mit Ruairi O’Byrne war natürlich unumgänglich gewesen. Ihr Vater war hart geblieben, und das mit Recht. Auch die O’Byrnes hatten darauf beharrt. »Ruairi wird die Ui Fergusa nicht entehren«, hatten sie erklärt. Gilpatrick hielt es tatsächlich für möglich, dass Brendan O’Byrne auch deswegen bei der Hochzeit gewesen war, um sich davon zu überzeugen, dass Ruairi auch wirklich heiratete. Jeder machte gute Miene zum bösen Spiel. Gilpatricks Vater hatte die Trauung vorgenommen. Doch es gab keinen Zweifel über den Zustand der Braut. Und obwohl Erzbischof O’Toole zum Zeichen seiner Freundschaft zugegen war, spürte die ganze Familie, dass ihr Ansehen in den Augen aller gesunken war. Nachdem der König ihnen ihren Landbesitz weggenommen hatte, war dies ein weiterer bitterer Schlag.

Es waren düstere Zeiten für die meisten alten Dubliner Familien, mit einer bemerkenswerten Ausnahme.

Ailred der Palmer hatte seinen Sohn wieder, was eine große Freude war. Obwohl es ihm nicht gelungen war, wie sein Vater eine Pilgerreise nach Jerusalem zu machen, war er als Geschäftspartner von Doyle, dem Bristoler Kaufmann, zurückgekehrt und hatte sich dadurch einen gewissen Wohlstand im Dubliner Hafen gesichert. Er lebte jetzt in einem Haus an den Fish Shambles. Doch am bemerkenswertesten war seine Heirat mit Una MacGowan kurz nach seiner Heimkehr. Offenbar hatte er sie gemäß den Wünschen seines Vaters und insbesondere seiner Mutter geehelicht. Und als glückliches Ergebnis dieser Verbindung hatte der neue Schwiegersohn Unas Vater, als er in diesem Sommer mit seiner Familie als kranker Mann zurückkehrte, in seinem eigenen Haus untergebracht, da es sich nun im Besitz des Kaufmanns Doyle befand. Obwohl Gilpatrick sie nicht persönlich kannte, freute er sich für die Familie und besonders für Una, die er einmal vor einem üblen Schicksal bewahrt hatte. Wenn ihn diese Ereignisse, die sich zum Guten gewendet hatten, auch daran erinnerten, dass Gott stets über das Leben der Menschen wachte, dann schien ihm das Pergament in seinen Händen nun zu zeigen – wenn es denn nicht schon ein Sakrileg war, so etwas zu vermuten –, dass das Auge Gottes auf irgendetwas anderem ruhte.

Die besagten Dokumente waren Briefe des Papstes aus Rom. Einer war an den Erzbischof und an seine Bischofskollegen gerichtet; der zweite richtete sich an die Könige und Fürsten Irlands. Der dritte war die Abschrift eines Briefes an König Heinrich von England.

Der kürzeste galt den irischen Fürsten. Er empfahl ihnen, sich »unserem liebsten Sohn in Christus, Heinrich« zu unterwerfen. So also bezeichnete der Papst den Mann, der vor noch nicht allzu langer Zeit den Mord an Thomas Becket veranlasst hatte! Er teilte ihnen mit, Heinrich sei gekommen, um die Kirche Irlands zu reformieren. Und er mahnte sie, demütig und unterwürfig dem englischen König zu gehorchen, sonst würden sie den Zorn des Papstes kennen lernen. Den Bischöfen empfahl er Heinrich als einen christlichen Herrscher an, der die Kirche Irlands von ihrem schrecklichen Laster und der Bestechung befreien würde, und drängte sie, Gehorsam »mit kirchlichem Tadel« zu erzwingen.

»Meint er, wir sollen jeden unserer Stammesoberhäupter exkommunizieren, der ihm nicht gehorcht?«, fragte O’Toole verwundert. »Der Heilige Vater scheint auch davon auszugehen«, fügte er mürrisch an, »alle irischen Fürsten hätten sich in König Heinrichs Haus begeben, was ja nicht stimmt.«

»Der Heilige Vater versteht nichts von irischen Gegebenheiten«, sagte Gilpatrick traurig.

»Sicher nicht«, brach es aus O’Toole heraus, der jetzt auf eine Zeile im dritten Brief deutete und ihn voller Abscheu vom Tisch warf.

Tatsächlich waren die Briefe eine glatte Beleidigung der Iren. Sie waren, laut dem Papst, ein »ignorantes und undiszipliniertes« Volk, das in »monströsem und ekelhaftem Laster« schwelgte. Sie waren »barbarisch, unkultiviert und unbekannt mit dem göttlichen Gesetz«. Man könnte meinen, die siebenhundert Jahre seit dem heiligen Patrick, die bedeutenden Klosterschulen, die irischen Missionare, das Book of Keils und all die anderen Herrlichkeiten der irischen christlichen Kunst hätte es nie gegeben.

»Was kann er meinen? Woran denkt er bloß?«, wollte der fromme Erzbischof wissen.

Für Gilpatrick lag die Antwort im dritten Brief, im Brief an Heinrich II.

Hierin sandte der Papst dem englischen König Glückwünsche zu der Ausdehnung seines Machtbereichs über die widerspenstigen Iren, die die Ausübung des christlichen Glaubens abgelehnt hatten. Überdies müsse der König, um vollständige Vergebung seiner Sünden zu erlangen – ohne Zweifel bezog sich dies hauptsächlich auf seine Mittäterschaft bei der Ermordung des Erzbischofs von Canterbury –, nur die gute Arbeit weiterführen. So hatte Heinrich alles bekommen, was er wollte: nicht nur Vergebung für den Mord an Becket, sondern zudem noch einen Segen für seinen Kreuzzug gegen die Iren. »Es könnte«, klagte O’Toole, »vom englischen Papst geschrieben sein.«

Und wie hatte Heinrich es erreicht? Der Wortlaut des Briefes machte es verständlich. Der Papst erklärte, er habe aus einer unanfechtbaren Quelle von der schändlichen Moral auf der westlichen Insel erfahren: nämlich von genau dem Kirchenmann, den König Heinrich zu ihm gesandt hatte! Und wurden dessen Worte nicht durch exakt den Bericht bestätigt, den die irischen Kirchenmänner ihm geschickt hatten? Er zählte einige der Missstände auf: unschickliche Eheschließungen, Nichtzahlung des Zehnten, genau die Dinge, denen sich die Synode von Cashel sorgsam zugewandt hatte. Der Papst erwähnte die Synode von Cashel nicht. Er wusste offensichtlich gar nicht, dass sie stattgefunden hatte, und ahnte nichts von den Reformen, die dort verfügt worden waren; auch schien er nichts von der guten Arbeit zu wissen, die Lawrence O’Toole und seinesgleichen bereits geleistet hatten.

Und nun endlich durchschaute Gilpatrick die List des Plantagenet–Königs. Er hatte die irischen Kirchenmänner dazu verleitet, diesen vernichtenden Bericht herauszugeben, und war dann damit als Beweis für die Lage in Irland nach Rom geeilt. Er hatte jedes Wort, das sich auf die Synode bezog, daraus gestrichen. Die Offiziellen in Rom, die ohnehin nur wenig über Irland wussten, hatten Papst Hadrians früheren Brief gefunden. Aus dem Ausflug des englischen Königs nach Irland, um Strongbow den Kopf zurechtzurücken, war nun ein päpstlicher Kreuzzug geworden. »Und wir haben ihm den Vorwand geliefert. Wir haben uns durch eigene Hand verurteilt«, murmelte Gilpatrick.

Es war unredlich. Es war Betrug. Es war eine brillante Lehrstunde in Politik von einem Meister des Spiels.